Dienstag, 7. Juni 2016

Tag 41: Straßentag. (Also Schotter.)

Tag 41/50: Donnerstag, 02.06.2016
Vytautai nach Leipalingis
6 h / 30 km

Und wieder raus auf die Straße. Auf den ersten paar hundert Metern überholt mich ein altersschwacher Tankwagen aus Sowjetzeiten, in bezaubernder blau-gelber Lackierung. Sofort muß ich wieder daran denken, daß dieses europabegeisterte Land tatsächlich mal Teil der Sowjetunion war -- eine schräge Vorstellung. Manche Details sind vielleicht hängen geblieben, wie die Vorliebe für leicht salziges Mineralwasser. Oder die abwechselnd schwarz und weiß gestrichenen Bordsteine an den Bushaltestellen. Und eben ein paar ganz wenige alte LKW und Landmaschinen, die irgendwo vergessen herumstehen.

Wieder ist der Tag schon am Vormittag warm und stickig. Die Schotterstraße nach Petroškai führt durch den Wald und fühlt sich an wie eine Sauna. Die Feuchtigkeit der Nacht liegt als heißer Dampf zwischen den Bäumen. Aber nur 20 m weiter die Straße runter kommt vielleicht schon wieder eine Wolke aus kühler schattiger Luft, so daß ich in diesen Wechselbädern quasi schonmal Wellness üben kann. Das Dorf selber zieht sich schier endlos an der Straße entlang, links neben der Straße verläuft ein gepflasterter Fußweg, den wohl schon seit Jahren niemand mehr nutzt. Viele Häuser stehen leer (oder wirken zumindest so), kein Laden, nix. Nur rechts die Bauernhöfe und links die Wohnhäuser.

Der nächste große Ort kommt mir bekannt vor. Veisiejai. Kenn ich, kann ich. Liegt auch an meiner klassischen Autostrecke nach Druskininkai. Die Stadtoberen haben sich richtig Mühe gegeben, gegenüber vom Forstamt gibt es einen Park mit hölzerner Schnitzkunst, einem Teich, skandinavisch-akribisch gemähtem Rasen und: Schatten. Ich setze mich ins Gras, gucke dem Verkehr auf der Landstraße zu und würde als Krönung so gerne den 30 m hohen Feuerwachturm nebenan besteigen. Aber natürlich ist alles verrammelt und verriegelt, eingezäunt noch dazu. Doch der gute Eindruck bleibt. Vor dem Rathaus dann der nächste detailliert gestaltete Park, es gibt sogar ein Tourismusbüro (bzw. ein Schild, das auf ein Tourismusbüro hinweist, weiter bin ich der Sache nicht auf den Grund gegangen).

Mir aber steht der Sinn nach einer Rast am See. Die nächste Stunde wird fieses Kilometerfressen auf der Straße, aber die Karte macht mir auch Hoffnung darauf, daß ich dann vielleicht als Belohnung die Mittagshitze am Wasser verbringen könnte. Also nehme ich die Beine in die Hand und versuche, es hinter mich zu bringen. Die glühende Straße in der Mittagssonne schlucke ich brav, aber die ersehnte Belohnung bleibt aus. Statt See-Idylle gibt's nur Privatgelände, Zäune oder Gestrüpp. Ich finde nur einen einzigen winzigen Zugang zum Wasser, gerade mal 20qm groß: Von einigen Kindern aus den umliegenden Häusern belegt. Ich verzichte dankend darauf, mich dazuzulegen und ziehe statt dessen weiter nach Osten.

Immerhin finde ich eine halbe Stunde später doch noch einen schönen Platz. Oben auf einem Hügel, der Weg verläuft in einer schattigen Allee, der Wind kommt angenehm kühl von rechts und die fleißigen Bauern haben die größten Findlinge aus dem Feld geholt und schön in den Schatten neben die Bäume gelegt. Einen besseren Sitzplatz werde ich heute sicher nicht mehr finden, also nutze ich ihn. Ausgiebig.

Endspurt für heute. Daß es in Leipalingis einen Supermarkt gibt, wußte ich schon vorher. Aber ich hatte auch auf ein Café oder Restaurant gehofft, irgendwas wo ich mir nochmal ordentlich den Bauch vollschlagen könnte, bevor ich heute Abend wieder nichts zu Essen bekomme. Aber der Pizzaladen, den es wohl mal gab, gibt es nicht mehr -- dann kaufe ich halt den Supermarkt leer.
Als ich wieder vor der Tür stehe, könnte ich mich ohrfeigen für diesen unüberlegten Kaufrausch. Und es passiert mir jedesmal aufs Neue! Der Rucksack wird temporär um ca. 6 kg schwerer, weil ich neben Mineralwasser und Eistee auch noch einige Biere für heute Abend, zwei Luxus-Dosen Cola, zwei Gurken, ein paar getrocknete Mini-Würste und einen Liter Kefyras eingepackt habe. Den Preis für so viel unüberlegtes Raff-Kaufen zahlt mein Rücken auf dem Rest der heutigen Etappe.

Hinter dem Schrottplatz links auf die Schotterstraße abbiegen, so hatte ich es mir gemerkt. Alles Standard. Genauso wie  inzwischen auch meine Reaktion zur Gewohnheitssache geworden, wenn ich Autos von hinten kommen höre: zwei Schritte zum Fahrbahnrand und ganz an die Seite quetschen. Geht quasi automatisch und funktioniert auch immer gut, wenn die Autos gleichzeitig auch etwas ausweichen. Aber jetzt überholt mich ein weißer Audi mit Vollgas auf der Schotterstrecke, mit so wenig Abstand, daß ich seinen Außenspiegel an meinem Arm vorbeisausen hören kann. Dabei hätte er genug Platz gehabt, er ist schließlich das einzige Auto auf zwei Kilometern. Das war Absicht! Ich bin plötzlich so sauer, daß ich wahrscheinlich mit Steinen geworfen hätte, wenn vom Auto nicht schon längst nur noch die Staubfahne in der Luft übrig wäre... 

Grummelnd finde ich meinen Weg zwischen zwei Bauernhöfen hindurch, auf denen sich wohl in den letzten 50 Jahren kaum etwas verändert hat. Ich komme an der Landstraße nach Druskininkai raus, direkt neben dem seit Jahren leer stehenden Hotel Erebuni, das schon beim Vorbeifahren Mitleid erregt. Zu Fuß macht es auch keinen besseren Eindruck.

Mein Quartier für heute Abend ist irgendwo da drüben am See, also biege ich in die erstbeste Einfahrt und lande auf einem Campingplatz. Die Richtung stimmt, aber irgendwie bin ich hier dann doch falsch. Meine gebuchte Unterkunft ist offensichtlich die Villa aus Holz mit dem raspelkurz manikürten Rasen und dem mannshohen Holzzaun drumherum. Als ich gerade auskundschafte, wie ich wohl eine Abkürzung auf das Nachbargrundstück finde, kommen mir die Betreiberin des Campingplatzes und ihre Tochter entgegen, ich schaffe auf Litauisch immerhin eine ordentliche Begrüßung und die Aussage, daß ich leider nur wenig Litauisch spreche. Die beiden freuen sich trotzdem wie Bolle, daß ich ein paar Sätze ihrer Sprache herausholpern kann, aber für die Antwort auf die Frage, wo ich denn bitte überhaupt Litauisch gelernt hätte, wechsele ich doch wieder mit "Sorry, do you speak English?" in altbekanntes Fahrwasser. Verdammte Gewohnheiten! Es hätte natürlich heißen müssen: "Atsiprašau, ar jūs kalbate angliškai?" Ich kann das eigentlich noch, aber der Erstversuch auf Englisch hat sich in den letzten Wochen einfach so eingebrannt. Die Tochter zeigt mir einen schmalen Durchgang zum Nachbargrundstück am Ende des Zaunes und so lege ich bei meiner Zimmervermietung wohl einen etwas seltsamen ersten Eindruck hin, als ich quer durch den Garten angedackelt komme.

Aber alles ist entspannt, ein junges Paar betreibt den Laden und vermietet eigentlich hauptsächlich en gros an Hochzeiten und ähnliche Feiern. Meine Gastgeberin hat einige Jahre in den USA gelebt und ist angesichts meines Rucksacks neugierig auf mein Woher und Wohin. Wir unterhalten uns noch lange in der kühlen Eingangshalle des Hauses, später setze ich mich mit meinem Buch auf den Steg und genieße, daß der Abend langsam auch wieder kühle Luft mit sich bringt. Von den frisch eingekauften 6 kg Getränken und Lebensmitteln schaffe ich natürlich trotz forciertem Bierkonsum nur einen Bruchteil und freue mich schon inständig darauf, sie morgen mit mir über die Ziellinie schleppen zu dürfen...

Montag, 6. Juni 2016

Tag 40: Lietuva! -- Und... Danke, aus!

Tag 40/49: Mittwoch, 01.06.2016
Giby (PL) nach Vytautai (LT)
6 h / 25 km 

Das Frühstück ist genau mein Ding. Rührei mit geräuchertem Speck, Tomaten mit ein paar Zwiebelringen und ähnliches Glück. Inzwischen habe ich mich vollkommen an die polnische Art zu frühstücken gewöhnt und vermisse Marmelade & Co. kein bißchen. Als ich schon pappsatt auf meiner Bank sitze, erscheint Marian noch mit einer Brötchentüte und Aufschnitt-Nachschub: "Für die Straße!" Ich hab zwar im Moment null Lust darauf, schmiere mir aber trotzdem pflichtbewußt noch eine Wegzehrung, weil ich jetzt schon ahne, daß mich dieses Brötchen heute Abend vor einem leeren Magen bewahren wird. Ich habe im Netz für heute zwar eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden, die allerdings von Anfang an klargestellt hat, daß weder Abendessen noch Frühstück zu haben sind.

Zum Abschied kriege ich noch ein Stück vom frischen Šakotis geschenkt, eine Art Baumkuchen, der auf dem drehenden Spieß in einem speziellen Ofen hergestellt wird. Ein tierischer Aufwand, aber jetzt weiß ich immerhin auch, was gestern Abend beim Abendessen so verführerisch nach Kuchen gerochen hat. Offensichtlich ist die uralte Großmutter aus dem Nachbardorf vorbeigekommen, um bei Marian und Teresa in stundenlanger Arbeit den Kuchen zu gießen. Zusammen mit dem Brötchen sollte das meine Abendsättigung auf jeden Fall sichern. Zitat Wikipedia: "30-50 Eier auf ein Kilogramm Mehl"...

Heute geht's rüber nach Litauen. Also heißt es ab sofort: Umgewöhnen und die eingeübten polnischen Vokabeln austauschen. Ich bin heilfroh, daß meine Litauisch-Lehrerin nicht neben mir steht und verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, während ich im Geiste mein schwer eingerostetes Grundgerüst des Litauischen wieder hervorkrame. Aš esu iš Vokietija?-jos?-joje?

Nur ein paar hundert Meter hinter dem Haus vom Marian und Teresa biege ich von der DK 8 ab in Richtung Berzniki. Auch diese Kreuzung und die Straße kenne ich, sie führt später auf staubigen Schotterwegen zu einem halbwilden Grenzübergang im Wald. Genau hier habe ich mich "aus Abenteuerlust" schon mal über die Grenze geschlichen, jetzt schmunzele ich darüber und gehe ganz entspannt eine ganz normale polnische Nebenstraße entlang. Der Weg windet sich vorbei an einsamen Bauernhöfen und verfallenden Ferienanlagen am See, die dank EU-Fördermitteln ihr eigenes Mindesthaltbarkeitsdatum um 2 Jahre überlebt haben.

Auf einer kleinen Brücke mitten im Wald mache ist Rast, während der Wind die Mücken schön auf Abstand hält. Unten im glasklaren Wasser sehe ich tonnenweise kleine Fische, Muscheln und Wasserpflanzen. Hier ist die Welt offenbar noch in Ordnung. Angeblich soll man hier auch paddeln können, aber ich unterstelle einen massiven Mangel an Outdoor-Romantik. Schilf, Gestrüpp, Mücken, mehr Sumpf als See. Da gehe ich lieber zu Fuß. Durch den Wald!

Eine Stunde später treffe ich wieder auf die bekannte Forststraße, die rüber nach Litauen führt. Aber heute ist sie nicht ganz meine Richtung, ich will eher nach Nordosten. Also überquere ich die Straße, verschwinde im Dickicht, schlage mich auf schmalen Fahrspuren durch den Wald und orientiere mich ernsthaft eher nach dem Sonnenstand als nach der Karte. Das klappt erstaunlich gut und eine knappe Stunde später lande ich sogar ungefähr dort, wo ich rauskommen wollte.

Hinter einer Kurve sehe ich einen Schilderwald neben der Schotterstraße, das muß die Grenze sein. Auf den letzten Metern bekomme ich dann doch feuchte Augen: Ich habe Polen einmal komplett durchquert und bin stolz wie Bolle. Seit grob 7 Wochen bin ich jetzt unterwegs und da vorne endet dieses große und großartige Land, das ich in Kostrzyn betreten habe. Damals war noch zaghafter Frühling und alles sah halt irgendwie so alltäglich wie Brandenburg aus. Jetzt ist gefühlt der Sommer in voller Fahrt unterwegs, da vorne beginnt das gute kleine Litauen, und alles fühlt sich auf eine sehr schöne Weise fremd und aufregend an.  -- Ich schmunzele über die Unterschiede der beiden Staaten in der Wahrnehmung der EU: Auf den polnischen Schildern prangt trotzig nur das Staatswappen in rot und weiß, die litauischen Schilder tragen alle auch den EU-Kranz der gelben Sterne auf blauem Hintergrund. 


An der Landschaft ändert sich nicht viel, nur Nuancen. Es gibt plötzlich keine schattenspendenden Bäume mehr neben der Straße, nur noch Gebüsch. Die Hunde auf den Bauernhöfen laufen häufiger wieder frei durch die Landschaft. Die ausgedienten Autos (fast ausschließlich alte Audi- oder VW-Modelle) bleiben wie in den USA einfach hinter der Scheune stehen; Platz ist ja genug. Die sandigen polnischen Rumpelwege durch den Wald werden zu breiten Schotterstraßen, auf denen pro Stunde zwei Autos mit riesiger Staubwolke und mordsmäßiger Geräuschkulisse dem Horizont entgegen brettern. Aber auch hier in Litauen hält wie schon zuvor in Polen jedes vierte Auto an und fragt, ob ich mitfahren will.

Die letzten zwei Stunden schwitze ich mir die Seele aus dem Leib, weil mein Freund der Wind plötzlich weg ist und ich statt dessen zwischen den staubigen Feldern in der Sonne brate. Meine Übernachtung taucht plötzlich linkerhand auf, obwohl ich noch gar nicht damit gerechnet hatte, die Gastgeberin spricht perfektes Englisch und im Haus ist es wunderbar kühl. Ich springe zuerst in den hauseigenen See, der noch frühsommerlich fröstelig ist und schreibe dann eine kleine Getränke-Einkaufsliste, weil Reda angeboten hat, mir etwas aus dem Supermarkt mitzubringen.

Zum Abendessen gibt es den guten litauischen Kefyras, das Wegzehrungsbrötchen und den Baumkuchen von Marian und Teresa und ich sitze auf der Bank im Garten und gucke in den Abend hinein. Ein Jogger läuft nach links vorbei, offensichtlich ist er gerade erst losgelaufen: Trotz der hohen Temperaturen ist kein Tröpfchen Schweiß auf seinem T-Shirt zu sehen. Zwanzig Minuten später kommt er rechts über den Hügel zur zweiten Runde, das T-Shirt hängt ihm inzwischen lose und schweißgetränkt um den Hals. Bei seiner dritten Runde hat er das Shirt nur noch in der Hand und ich frage mich, was wohl in der vierten Runde kommen mag...?

Und bei aller Ruhe, Entspannung und Stolz über die vergangenen Wochen treffe ich hier endgültig die Entscheidung, meine Reise demnächst zu beenden. Ich werde nicht bis Estland weiterlaufen, sondern hier in Litauen noch zwei Tagesmärsche bis Druskininkai hinlegen, mich dort ein Wochenende lang an den Thermalquellen erfreuen und dann nach Berlin zurückkehren.
Mir ist in den letzten zwei Wochen massiv die Motivation verloren gegangen, auch wenn ich mich bemüht habe, das in meinem täglichen Geschreibsel möglichst nicht durchscheinen zu lassen. Viele der vergangenen Tage liefen nach demselben Schema ab: Aufstehen - Frühstücken - Loslaufen - den Tag/die Strecke erledigen - Ankommen - Abendessen - Schlafen. Eine sich endlos wiederholende Abfolge, die viel zu oft sich selbst genug war.

Ich fühle mich seit zwei Wochen ausgezehrt und kraftlos. Die Lust auf Abenteuer, Entdecken und Erleben ist zuletzt viel zu oft der Frage gewichen, wie ich am schnellsten meine Tagesetappe hinter mich bringe. Und ich merke: Die Luft ist raus. Nach den erreichten 1.000 km vorgestern, nach der erreichten Grenze zu Litauen heute. Ich wüßte gerade nicht, worauf ich mich in den nächsten Wochen noch freuen wollte, obwohl es dazu eigentlich mehr als genug Gelegenheit gäbe. Diese Lustlosigkeit läßt mich im Moment erheblich daran zweifeln, ob ich die kommenden Wochen wirklich genießen könnte. Und eigentlich habe ich mich viel zu sehr auf Litauen und den Rest des Baltikums gefreut, als daß ich mit meiner vorherrschenden Haltung von "Weiter! Durchhalten! Ankommen!" weitermachen möchte. 
Deswegen werde ich mir das Baltikum aufsparen, für das nächste Mal. Der litauische Kurort Druskininkai ist für mich auch ein schönes Ziel, quasi ein natürliches Ziel. Hier habe ich schon mehrmals Urlaub gemacht und die Region immer als Kleinod empfunden. Also werde ich die Tour schon in zwei Tagen nach ca. 1.100 km beenden -- an einem Ort, an den ich immer wieder gerne zurückkehren werde. Und der auch gut als Startpunkt für die Fortsetzung der Tour taugt -- denn die Centmünze, die ich an meinem ersten Tag vor den Toren Berlins gefunden habe, wartet bis dahin immer noch darauf, in Tallinn in die Ostsee geworfen zu werden.


Sonntag, 5. Juni 2016

Tag 39: Und wieso werde ich nicht kontrolliert?

Tag 39/48: Dienstag, 31.05.2016
Serwy nach Giby
5,5 h / 25 km

Ich war wirklich der einzige Gast gestern Abend. Und ich bin es auch noch beim Frühstück. Der Tisch ist ordentlich gedeckt, ich drehe wieder die Stereoanlage leiser (übrigens mit derselben CD wie gestern Abend) und während ich zufrieden eingelegte Pilze, schicke Spiegeleier und ähnliches mehr in mich hinein mampfe, bewegt sich plötzlich der Stuhl schräg gegenüber von mir wie von Geisterhand ein Stück nach rechts. Einfach so. Äääh --- wie bitte? Erst nach kurzem Innehalten und Wundern kriege ich mit, daß mir offensichtlich die gelbe Hotelkatze beim Frühstück Gesellschaft leistet und unter den Stühlen herumscharwenzelt. Wahrscheinlich hätte sie auch gerne was vom Frühstücksfleisch, dem Geräucherten oder vom Zwiebelfisch (den ich ganz bestimmt nicht essen werde). Aber kommt nicht in die Tüte!

Auf dem Weg zurück ins Zimmer hole ich mir meinen dritten Herzinfarkt, seit ich in diesem Hotel angekommen bin. Der Architekt des Hauses kam auf die glorreiche Idee, den Boden vor den Aufzügen mit Glaselementen zu gestalten, und zwar durchgehend in allen Stockwerken. Du trittst also gedankenverloren im 3. Stock aus dem Fahrstuhl und guckst plötzlich in einen Abgrund, irgendwo tief unter dir die Hotelhalle. So geht also offensichtlich Wellness: Die Belebung der Sinne. Der Typ sollte öffentlich ausgepeitscht werden!

Wieder auf der Landstraße schalte ich in den Sklep-Suchmodus, weil ich befürchte, daß mir die zwei Liter Leitungswasser in meinem Rucksack nicht die nötige Motivation für den heutigen Tag verleihen werden. Nachdem der erste Laden etwas länger geschlossen ist, gebe ich die Hoffnung auf, heute noch was zu finden. Den Rest des Tages bin ich eigentlich nur noch im Wald unterwegs. Aber wie immer hat Polen noch ein Ass im Ärmel, nur 200 m weiter gibt es einen gut versteckten Kellersklep, den ich eigentlich nur gefunden habe, weil davor mal wieder ein schnell und schräg geparktes Auto stand. Im Laden eine junge Dame mit Modelmaßen und entsprechenden Hotpants, die zackig schon die Preise meiner Getränke in die Kasse hackt, als ich sie gerade aus dem Regal nehme.

Wieder vorbei am klassischen Bild der letzten Tage: Einzelne Kühe, auf der Weide angepflockt, daneben der antike Audi 80 des Bauern, der die Tiere entweder gerade melken oder ein Stück weiterrücken will. Der Himmel läßt mich im Unklaren über seine Absichten, vielleicht regnet es heute noch ein bißchen. Immerhin ist es nicht ganz so ekelig warm wie gestern.

Die ersten zwei Stunden fädele ich mich wieder links und rechts der DK 8 durch die Landschaft. Wenn ich die Landstraße überquere, erkenne ich sogar einige Stellen wieder: Hier biste schonmal durchgefahren. Ein sehr seltsames, aber auch sehr anrührendes Gefühl. Selbst wenn ich mit dem Auto nach Litauen gebrettert bin, begann hinter Augustów für mich immer die Ferne, die Sehnsucht, das Abenteuer. Und jetzt bin ich zu Fuß hier.

Von der in der Wanderkarte versprochenen Schmalspurbahn durch den Wald (die ich gerne als Weg-Ersatz genutzt hätte) ist in der Realität nichts zu sehen. Nur ein Brückengerippe über den Fluß ist noch übrig, daneben ein Haus mit gleich drei kläffenden Hunden. Aus einem erschreckend schmalen Waldweg kommen mir zwei Kleinbusse der Straż Graniczna entgegen gedonnert und ich denke mir schon: "DAS ist der Moment, in dem ich endlich kontrolliert werde!" Aber die Jungs haben offenbar Besseres zu tun, als mich zwielichtigen Wanderer in Grenznähe zu filzen.

Aus Trotz suche ich mir sofort ein paar kleine Schmugglerwege durch das Waldstück vor mir, die ich mir nur mit ein paar einheimischen Mücken teile. Im nächsten Dorf wird's leicht spannend. Die Wanderkarte deutet ein Brückerl übers Bacherl zwischen den beiden Seen an. Die Satellitenkarten von Google Maps sahen das gestern Abend im Internet ähnlich, aber der Wanderer bleibt bis zur letzten Sekunde skeptisch. Mindestens eine Stunde Umweg wäre die Alternative, falls das nicht klappt. Also gebe ich mir größte Mühe, den richtigen Weg zu finden und hoffe inständig, daß die Brücke überhaupt existiert. Ich schlängele mich an einem Wochenendgrundstück mit einer skeptisch dreinblickenden Familie vorbei, folge einem Trampelpfad, der an einem Zaun endet und finde schließlich statt einer Brücke ein paar ordentliche Holzbretter über dem sumpfigen Fluß. Geht auch.

In meinem Zieldorf Giby steht direkt neben der DK 8 immer noch der riesige Kasten von Gebäude, der schon seit 5 Jahren so aussieht, als würde hier bald ein Hotel oder Restaurant eröffnen. Inzwischen ist er gelb, aber immer noch eine Baustelle. Gegenüber ein Sklep, den ich mir sofort für meine Abendversorgung merke. Weiter hinten die Kirche, auf deren Parkplatz sonst gerne die Straż Graniczna oder Policja stehen und Autofahrer rausziehen. Aber heute ist nix Grünes oder Silbernes zu sehen. Ich biege also leider unkontrolliert auf den Schotterweg zu meiner Agroturystyka ein. Dabei hätte ich so gerne auch aus Polen ein Bild geliefert wie damals, als ich Frankreich von der Gendarmerie gefilzt wurde.

Statt dessen wird's unerwartet heimatlich. Ich wackele mit "Dzień dobry!" auf den Hof und das Gespräch wechselt sofort ins Deutsche. Mein Gastgeber Marian hat in den 70ern einige Jahre im VEB Reifenkombinat Fürstenwalde (Stichwort: "Pneumant") gearbeitet und spricht ein erschreckend gutes Deutsch, garniert mit dem polnischen Singsang, den ich so liebe. Es gibt ein schönes Zimmer mit göttlich kühlem Raumklima und Picknickbank auf der Terrasse. Auch ein Abendessen geht überraschenderweise klar, obwohl ich mich schon auf ein Schokoriegel-Dinner aus dem Sklep eingestellt hatte. Statt dessen hausgemachte Buletten, Bigos, Kartoffelbrei mit Dill.

Duschen, dösen, die junge Hofkatze streicheln, dem entspannten Hofhund Egon dabei zugucken, wie er sich für ebenjene Katze verantwortlich fühlt und immer genau wissen muß, wo sie gerade ist.

Auf dem Weg zum Sklep (zwecks Getränkeversorgung) komme ich an der Kirche nebenan vorbei, ich habe offensichtlich gerade die  Zeit der Abendmesse erwischt. Die getragene und leicht leiernde Gesang des Priesters wird per Lautsprecher nach draußen getragen und gibt der Abendstimmung im leeren Dorf links und rechts der leeren Landstraße einen weltfremden Anstrich. Vor dem Sklep läuft der alte Ursus-Traktor im Leerlauf, der Bauer holt sich noch schnell zwei Feierabendbier. Ich tue es ihm gleich, erwische zwar aus Versehen zwei Warka-Apfel-Birne-Radler, aber was soll ich mich ärgern.

Es ist mein letzter Abend in Polen und ich sitze zufrieden auf meiner Terrasse, schaue mir einen abendlichen Regenschauer an, wühle in meinen Wanderkarten herum und freue mich auf morgen.

Samstag, 4. Juni 2016

Tag 38: 1.000 km voll.

Tag 38/47: Montag, 30.05.2016
Augustów nach Serwy
7 h / 26 km

So sieht Unlust aus: An einem furchtbar schwülen Morgen wach werden und quasi schon im Sitzen schwitzen. Die halbe Stunde Weg zur Postfiliale am Marktplatz von Augustów reicht völlig, um mich komplett zu erledigen. Aber das Paket mit den abgelaufenen Wanderkarten muß zur Post. Die inzwischen überflüssige Fleecejacke schicke ich gleich mit. Es ist so ekelig warm, daß mir selbst in der Warteschlange vor dem Schalter die Schweißperlen auf der Stirn stehen. Und dann macht die Tante hinter dem Tresen auch noch Streß, weil ich keine polnische Absenderadresse angegeben habe. "Hat bisher auch immer geklappt!" würde ich ihr gerne in ihr schlecht gelauntes Gesicht brüllen, aber ich kann ja Gott sei Dank kein Polnisch.

Raus aus der Stadt ist wie immer die größte Strafe. Aber die habe ich nach ganzen zwei faulen Tagen vielleicht auch ein bißchen verdient. Die Strecke heute ist mir ein bißchen unheimlich, weil ich viele Ecken schon vom Autofahren kenne. Hier, der Kreisverkehr. Die Brücke über den Kanal mit der schrägen Fußgängerschnecke obendrüber. Da die Abzweigung, bei der ich auf dem Weg nach Litauen immer auf die Nebenstrecke durch den Wald abgebogen bin. Eigentlich fädele ich mich den ganzen Tag mal links, mal rechts entlang der DK 8 in Richtung Vilnius.

Die Industriegebiete von Augustów ziehen sich extra-lang und es dauert ungefähr bis Mittags, bis ich zum ersten Mal so richtig aus der Stadt raus bin. Zum Trost gibt es aber gleich einen Mini-Strand am glasklaren See, eine Wiese zum Rumlungern und herrlich kaltes Wasser. Und Wind! Mittagspause.

Ungefähr da, wo der polnische Grenzschutz (Straż Graniczna) sonst immer steht und kontrolliert, treffe ich wieder auf die DK 8, erkenne die Brücke zwischen den zwei Seen mit der alten Schleuse dazwischen und spiele kurz mit dem Gedanken, in der Bar neben der Straße einen kleinen Mittagsimbiß zu snacken. Aber irgendwie ist es einfach zu warm, um Lust auf Essen zu haben.

In der Ferienhaussiedlung nebenan verlaufe ich mich erstmal heillos und latsche am Ende den ganzen Weg zur Straße sinnlos zurück. Als ich endlich den richtigen Waldweg finde, lockt schon ein kleines Schild mit einem 2 km entfernten "Pole biwakowe" am See. Der ist in meiner Karte auch eingezeichnet. Vor meinem geistigen Auge formt sich schon das Bild von einer sanft ansteigenden Wiese am See, mit einem schattigen Plätzchen für mich und meine Mittagsrast.

Aber ich finde im Wald keinen Zeltplatz, keine Wiese, noch nicht mal einen Trampelpfad runter zum Wasser. Nur Sonne, Hitze, Staub -- und Bremsen. Als ich frustiert stehen bleibe und den Rucksack absetze, um wenigstens mal zwischendurch etwas zu trinken, habe ich sofort zwei von diesen Biestern am Hals. Sie sind Gott sei Dank eher auf meinen Rucksack scharf und daher ganz gut zu erlegen, aber jetzt weiß ich, daß die vermeintlichen Wespen, die in den letzten Tagen immer wieder so zackig ihre Kreise um mich herum gezogen haben, in Wahrheit Pferdebremsen sind. Und die sind auch recht schmerzhaft, wenn ich mich an meinen letzten Biß vor zig Jahren erinnere.

Mein Forstweg führt träge durch den Wald und glüht in der Sonne. Ich hatte mich schwer auf eine Pause am Wasser gefreut, statt dessen sitze ich vollkommen erledigt für eine gute halbe Stunde auf einem Baumstumpf am Wegesrand, im Rücken den Zaun der Kiefernschonung. Hatte ich den heutigen Tag nicht eigentlich als "recht kurz, Kategorie Spaziergang" eingeordnet? Vielleicht von der Entfernung her, aber jeder Kilometer ist heute hart erarbeitet. Ich weiß gar nicht, wie warm es wirklich ist (wahrscheinlich sind es maximal 27 oder 28°), aber die Luft ist wie dicker Sirup und macht das Atmen zu einer Zumutung. Am Himmel überall Schauer- und Gewitterwolken -- von mir aus dürfte es jetzt gerne regnen, ich hätte überhaupt nichts gegen eine kleine Abkühlung.

Noch nicht mal eine Stunde nach meiner letzten Rast habe ich die Schnauze voll und knalle mich kraftlos einfach neben dem Weg ins Gras. Wenigstens ein bißchen Schatten. Ich suche aus meinem Rucksack die letzten Überreste meiner Getränke-Einkaufsorgie von gestern heraus (Kefir und Schweppes Lemon), trinke alles weg und sitze trotzig mit meinem Buch im Schneidersitz so lange im Gras, bis mir langsam wieder kalt wird. Inzwischen haben auch die Ameisen meine leeren Getränkeflaschen gefunden und ich bin kurz versucht, meinen von Ameisen übersäten Müll einfach getreu dem polnischen Vorbild im Wald liegen zu lassen. Grummelgrummel, kommt überhaupt nicht in Frage. Also wische ich die leeren Plastikflaschen wieder ameisenfrei, bevor ich sie im Rucksack verstaue und denke mit dabei: "Deutscher geht's echt nicht..."

Seit ein paar Kilometern laufe ich angeblich parallel zum "Kanal Augustówski", den die Polen schonmal vergeblich als Weltkulturerbe anmelden wollte. Seit ein paar Kilometer habe ich aber außer Bäumen auch nix von diesem Kanal gesehen, also ist es mir irgendwann auch schon egal, als ich bei Sucha Rzeczka wieder auf Asphalt treffe. Am Himmel nach wie vor überall Gewitter und ich bin vollkommen entsetzt, wie langsam ich heute vorangekommen bin. Als hätte das schwülwarme Wetter mein Lauftempo um gefühlt die Hälfte verringert.


Auf der Straße nach Serwy mache ich die 1.000 km seit Berlin voll, den Punkt hatte ich mir heute früh extra auf der Karte ausgemessen. Eigentlich ein festlicher Moment, aber ich bin gerade so erledigt, daß ich mich echt zusammenreißen muß.

Die letzte Stunde bis zu meinem Etappenziel kann ich rechts neben mir im Osten die nächste Gewitterfront sehen. Es donnert schon fleißig und mein Bauch sagt mir: "Das wird knapp..." Hinter mir donnert es, neben mir donnert es und ich ziehe schon unwillkürlich den Kopf etwas ein, aber ich schaffe es trocken bis zu meinem Hotel. Als ich auf den Parkplatz laufe, fallen die ersten Regentropfen (ich kann mir angesichts des geilen Timings die Becker-Faust nicht verkneifen) und noch bevor ich meinen Zimmerschlüssel in der Hand habe, geht draußen die Welt unter. Glück gehabt! Das hätte besser nicht klappen können!

Ich bin heute der einzige Gast in diesem riesigen Kasten, aber ich kriege trotzdem ein Abendessen. Die furchtbar schüchterne Kellnerin führt mich in einen riesigen Speisesaal mit rotem Teppich, wir verhandeln kurz auf Teil-Polnisch meinen Getränkewunsch und als sie in Richtung Bar verschwindet, drehe ich erstmal heimlich die plärrende Stereoanlage leiser, die mich mit Musik unterhalten soll. Für den Gast nur das Beste. Gerade als ich denke, die Kellnerin wird nie kommen, um mir eine Essensbestellung zu ermöglichen, landet eine Suppe vor mir. Erbse? Dann ein Schnitzel mit Kartoffelecken und einem ziemlich geilen Krautsalat. Ungefähr hier fällt mir wieder ein, daß ich seit mindestens 4 Abenden nichts (im polnischen Sinne) Ordentliches gegessen habe. Und zum Abschluß überrascht mich noch ein Stück Nußkuchen. Nichts davon habe ich bestellt, aber alles brav aufgegessen.

Freitag, 3. Juni 2016

Tag 37: Schöne Pflichten.

Tag 37/46: Sonntag, 29.05.2016
Kalinowo - Augustów
5 h / 25 km

Ursprünglich wollte ich ja nur einen Tag Pause in Augustów machen, aber ich bin gestern einfach nicht in die Gänge gekommen. So wurde aus einem kleinen Stopover dann doch spontan ein Aufenthalt von 4 Nächten. Die letzten zwei Tage bin ich im Wesentlichen nur faul herumgelegen - und es war herrlich. Mal im Bett, mal am See, mal im Park.

Insofern fühlt sich die heutige Aufgabe (mit dem Bus zurück nach Kalinowo fahren, dann das noch fehlende Stück Weg bis Augustów laufen) eigentlich eher nach Strafarbeit an. Wenigstens kann ich entspannt ausschlafen, mein Bus geht sowieso erst um 11:00 Uhr. Am kleinen Busbahnhof von Augustów ist tote Hose, am Ende sind wir ganze zwei Fahrgäste. Der Bus ist ein charmanter knallorangener Autosan aus den 80er Jahren, ausgestattet mit Klimaanlage für den Fahrer (= Ventilator) und 4-Gang-Schaltgetriebe. Fährt immerhin 60 km/h. Der Fahrer kennt aber auch noch den geheimen Renngang: Wenn man nämlich bergab auskuppelt und rollen läßt, läuft die Karre sogar fast 70 km/h! So langsam und entspannt war ich noch nie auf einer polnischen Landstraße unterwegs.

In Kalinowo springe ich aus dem Bus und mache mich etwas lustlos auf den Weg zurück nach Augustów. Erstmal wieder an der Straße entlang gondeln, die ich dank dünnem Sonntagsvormittagsverkehr fast für mich alleine habe. Und nach dem ersten Abbiegen auf einen Feldweg ist sowieso alles Spaziergang. Es ist sonnig und warm, etwas windig und obwohl es erst Ende Mai ist, fühlt es sich richtig nach Sommer an.

In den Dörfer reparieren Männer ihre Autos, Großmütter sitzen auf ihren Holzbänken im Schatten, Familien tummeln sich im Garten. Es hat was von Kino, alle paar Minuten für einen Moment in ein neues Leben zu blicken. Ich gehöre nicht dazu, rutsche einfach ganz heimlich wie ein Gespenst durch die Dörfer; manchmal durchquere ich eine kleine Siedlung, ohne daß mich jemand wahrnimmt. Noch nicht mal die Hunde...

Die Aussicht auf dem Feld ist großartig und weit, die Grüntöne leuchten mit dem Himmel um die Wette und ich fange an, den Tag viel mehr zu genießen, als ich es anfangs für möglich gehalten hätte. Eigentlich passt alles. Die theoretischen Wege aus der Wanderkarte existieren auch praktisch, es geht sich lockerleicht auf breiten Feldwegen und stillen Asphaltstraßen und ich genieße den Blick und den Wind nochmal in vollen Zügen. Ab morgen werde ich für mehrere Tage fast ausschließlich im Wald unterwegs sein und so sehr ich mich darauf freue, so sehr werde ich die Weite und den Horizont vermissen.






Im nächsten Dorf der übliche Mix aus alten Bauernhöfen und neu hingeklatschten Häusern. Aus dem Garten des Einfamilienhauses rechts neben der Straße bellen mich zwei große Hunde an, nichts Ungewöhnliches. Ich habe mir inzwischen angewöhnt, immer mal kurz hinzugucken, wenn irgendwo eine Hundealarmanlage losgeht. Ist der liebe Wauwau angekettet, ist das Grundstück eingezäunt oder läuft er vielleicht - wie manchmal auf Bauernhöfen - frei herum? In diesem Fall alles gut, ordentlicher Zaun, geschlossene Tore. Also ignorieren und weiter.
Ich bin an dem Grundstück schon vorbei, als von schräg hinten einer der großen Hunde angebrettert kommt -- und der will nicht spielen oder auch nicht kuscheln. Offensichtlich ist er irgendwo hinten im Garten über den Zaun gesprungen und steht jetzt brüllend und drohend mit gefletschten Zähnen vor mir. Das Adrenalin schießt mir in die Blutbahn, eigentlich habe ich keine Angst vor Hunden, aber eigentlich habe ich auch nie solch aggressive Biester vor mir. Ich versuche es erstmal mit langsamen Weitergehen, keine gute Idee, als ich dem Vieh den Rücken zudrehe, kommt er mir gefährlich nahe. Langsamer Rückzug rückwärts, mit ruhigen Worten und ausgestreckter beschwichtigender Hand funktioniert besser. Als ich weit genug weg bin, sehe ich den Hund stolz die Straße auf und ab paradieren. Mistvieh! Immerhin: Glimpflich ausgegangen. Der Radfahrer, der kurz nach mir an der gleichen Stelle vorbeifährt, muß sich am Ende sogar mit Fußtritten wehren.

Andererseits: Das war die zweite Hundeattacke in Polen überhaupt und die erste, die man überhaupt ernstnehmen konnte (die andere war nur eine kläffende Fußhupe). Auch wenn es sich überhaupt nicht gut anfühlt, plötzlich so einem aggressiven Vieh gegenüber zu stehen, habe ich mir das mit den Dorfhunden insgesamt viel schlimmer vorgestelllt. Mal gucken, wie das in Litauen weitergeht.

Nördlich von mir ist in den letzten zwei Jahren eine neue Schnellstraße gebaut worden, von der meine Wanderkarte noch nicht so richtig was weiß. Bevor ich wieder sinnlose Umwege laufe, weil ich dank Zaun neben der Schnellstraße nicht rüberkomme, entscheide ich mich lieber gleich dafür, die letzten Kilometer auf der DK 16 zu laufen. Da weißte wenigstens, waste hast. Ist sowieso nicht viel los, das Bankett ist frisch gemäht und ich kann die letzten Kilometer entspannt im Gras laufen.

Mich überholt ein alter Traktor mit Wasserfaß hintendran, der Sohn des Bauern reitet hinten auf dem Faß und grüßt mich freundlich über die Straße.

Als ich den Ortsrand von Augustów erreiche, sieht es am Himmel schon wieder mächtig nach Gewitter aus. Ich peile noch einen Supermarkt an, kaufe tonnenweise Getränke (Gesamtvolumen: ca. 8,5 Liter). Keine Ahnung, wer das alles bis morgen früh trinken soll, aber ich halte das in diesem Moment offensichtlich für notwendig. Außerdem suche ich mir eine kleine Brotzeit zusammen, ich habe bei dem Gewitterwetter keine Lust, nochmal die halbe Stunde in die Ortsmitte zu laufen.

Und so beende ich die ungeliebte Pflichtetappe entspannt und zufrieden. Eigentlich war es eher ein schöner Sonntagsspaziergang, von mir aus kann es ab jetzt ruhig regnen. Noch vor dem Duschen trinke ich ein eiskaltes Warka Radler (das übrigens auch in Polen Radler heißt) und verbringe den Rest des Abends glücklich in meinem kleinen Zimmer in der stillen Pension.

Donnerstag, 2. Juni 2016

Dienstag, 31. Mai 2016

Tag 36: Endlich mal wieder frieren...

Tag 36/43: Donnerstag, 26.05.2016
Ełk nach Kalinowo
6 h / 28 km 

Wie immer wache ich viel zu früh auf, aber beim Blick aus den Fenster raus auf den See hüpft mein Herz: Wolken, Nebel, kalter Wind. Ich bleibe heute früh extra lange im Bett liegen und genieße jede Minute, während die kühle Luft durch das Fenster hereinströmt.

Das Tellerfrühstück unten im Pub hat etwas Absurdes, alle Tische sind paßgenau und abgezählt eingedeckt, jeder hat ein Glas Orangensaft vor sich, das komplett bis zur Oberkante voll ist. Die Brötchen sind wattebauschweich, dann flattert überraschenderweise ein Omlett auf meinen Tisch. Beim Aufschneiden läuft mir eine dampfende Masse aus Tomaten, Zwiebeln und geschmolzenem Käse entgegen. Not today, my friends. Not today. Ich bin immer noch pappsatt von meiner viel zu großen Pizza gestern Abend. Ich hab sogar noch ein paar Stücke übrig, als Pausenschmaus in meinem Rucksack...

Als ich später in meiner üblichen Wanderkluft durch Ełk laufe, ist es immer noch schön kalt. So sehr, daß ich ernsthaft überlege, ob ich mir doch was Langes obenrum anziehen soll. Aber ich lasse es sein, weil nach den letzten viel zu heißen Tagen das Gefühl von leichtem Frösteln einfach nur herrlich ist.

Allerdings fällt mir auf: Irgendwas stimmt hier nicht. Sie Stadt ist wie ausgestorben Ich muß erst an großflächig geschlossenen Geschäften vorbeigehen, bis mir langsam dämmert: Feiertag. Fronleichnam. In Polen wird heute praktischerweise auch gleich noch Muttertag gefeiert. Die Supermärkte haben alle geschlossen, selbst die Skleps sind dicht. Und ausgerechnet heute habe ich nichts zu Trinken dabei, weil ich eigentlich auf dem Weg durch die Stadt noch einkaufen wollte. Ganz hinten zwischen Industrie- und Neubaugebiet, als ich schon gar nicht mehr daran glaube, hat dann doch noch ein Sklep geöffnet, ich decke mich großflächig mit Getränken ein. Nachschub wird es wohl heute nicht mehr geben.

Auf dem Weg raus aus der Stadt sehe ich das erste Straßenschild mit Hinweis auf die litauische Grenze und atme tief durch. Hinter dem wirklich allerletzten Autohaus von Ełk (Fiat/Jeep/Alfa) darf ich endlich nach links in den Wald eintauchen. Die Mücken sind wieder da, allerdings etwas lustloser als sonst.

Schon zwei Dörfer weiter bekomme ich Lust auf Mittagspause, werfe mich auf ein Stückchen Wiese neben dem Feldweg und esse erstmal feierlich meine Pizza von gestern Abend fertig. Inzwischen ist es doch wieder recht warm geworden, aber selbst in der Mittagssonne ist es noch gut auszuhalten. Also liege ich noch eine Stunde faul im Gras herum und lese ein bißchen.

(Bildmitte: Weg)
Zwei Kilometer weiter allerdings ist mein Weg irgendwie weg. Auf der Karte sah das alles noch ganz vertrauenerweckend aus, in der Realität wird aus dem breiten Feldweg eine schmale Fahrspur, dann ein zugewucherter Hohlweg, den ich noch über das benachbarte Feld umgehen kann, aber bald schwimme ich doch wieder zwischen Feldern und Gestrüpp im brusthohen Gras, durch dampfende Luft, und folge eher einer groben Richtung als einem Weg.

Links von mir taucht ein Sumpfgebiet auf, es raschelt und knackt im Gebüsch. Ich rufe ein paar Mal laut, damit sich z.B. Familie Wildschwein nicht so überrascht fühlt, aber dann brechen statt dessen zwei klatschnasse Hunde aus dem Unterholz. Mir rutscht mal eben das Herz in die Hose. Offensichtlich waren sie schwer im Sumpf unterwegs, beide sind bis auf die Knochen naß und vermatscht, schauen mich etwas irritiert an, sind aber reichlich desinteressiert und verschwinden zügig wieder. Ok, also keine zähnefletschenden verwilderten Monster, die zwei Kilometer vom nächsten Dorf entfernt möglichen einsamen Wanderern auflauern. Trotzdem bin ich froh, als ich endlich wieder auf dem freien Feld stehe.

In den Dörfern herrscht Feiertagsstimmung. Alle sind im Garten, entweder arbeitend oder faulenzend, ein junger Vater zimmert an einem Baumhaus für seine Kinder. Ich laufe einfach mitten durch diese Idylle hindurch und gehöre nicht dazu, freue mich über jedes Stückchen Schatten, das die Straßenbäume auf den Asphalt werfen und ziehe durch das Land.


Wieder habe ich für heute Abend keine passende Übernachtung gefunden, also habe ich die Busfahrpläne studiert. Heute Nachmittag fährt genau ein Bus nach Augustów, so gegen 16:30 Uhr. Den sollte ich erwischen. Morgen früh kann ich dann wieder mit dem Bus hierher zurückfahren und das restliche Stück nach Augustów "ablaufen".


Natürlich bin ich viel zu früh an der Bushaltestelle, also sitze ich erstmal erschlagen im herrlichen Schatten des Bushäuschens herum und schaue den Autos auf der DK 16 zu. Irgendwann stelle ich mich an die Straße und halte den Daumen raus, vielleicht geht ja noch was, bevor der Bus fährt. Dank Feiertag ist auf der DK 16 erstaunlich wenig los, aber nach einer knappen halben Stunde hält ein Auto an. Marcin aus Gdansk nimmt mich mit nach Augustów, wo er aufgewachsen ist. Er bringt mich sogar noch bis zu meinem Pensjonat am anderen Ende der Stadt und wir verabreden uns noch für einen der Tage des langen Wochenendes auf einen Stadtrundgang und ein Bier


Die abendliche Suche nach einem Restaurant endet im wüsten Getümmel. Ganz Augustów plus Touristen ist auf den Beinen und bummelt in den Feiertagsabend hinein, die Biergärten sind bis zum Anschlag gefüllt, vor dem einzigen offenen Getränkeladen der Stadt steht eine mittlere Schlange und mir ist das für heute alles ein bißchen zu viel. Abendessen lasse ich ausfallen, kaufe mir statt dessen noch ein Eis und zwei Bier -- das muß als flüssige Nahrung für heute genügen.

Statt dessen genieße ich in meiner stillen Pension die abendliche Ruhe, stöbere durch den Stapel neuer Wanderkarten, die mir Otti hierher geschickt hat und telefoniere lange mit der Heimat. Kurz vor dem Einschlafen erinnere ich mich daran, daß ich mich seit Tagen auf Augustów gefreut habe, vor allem weil ich hier schon mehrmals auf dem Weg nach Litauen durchgefahren bin. In der Fremde an Orte zu kommen, die man kennt, ist ein besonderes Privileg. Und: Augustów fühlte sich schon immer so an, als würde hier ein neues Kapitel beginnen. Das Kapitel der Holzhäuser, des riesigen Wälder der Puszcza Augustowksa, die letzten Kilometer bis zur Grenze nach Litauen.

Montag, 30. Mai 2016

Tag 35: Gewitterlastiges Bushäuschen-Roulette.

Tag 35/42: Mittwoch, 25.05.2016
Klusy nach Ełk
5 h / 21 km

Schon zum Frühstück gibt es die trompetenden Warnungen der anderen Gäste: Es ist Gewitter angesagt! Ich nehme das erstmal gelassen hin. Noch ist davon zwar weit und breit nix davon zu sehen, aber fällig wäre es ja mal nach den letzten warmen Tagen.

Uwe fährt mich wieder zu meiner Bushaltestelle nach Klusy, wir verabschieden uns mit Handschlag und ich bin trotzdem froh, wieder weiter zu kommen. So schön es ist, mal zwei Nächste am Stück im gleichen Bett zu schlafen, so richtig fühlt es sich auch an, wieder mit all meinen Habseligkeiten auf dem Rücken unterwegs zu sein.
Den angepeilten Weg durch den Wald gibt es offensichtlich nicht, also laufe ich zum Auftakt des Tages mal wieder auf der DK16 zwischen 40-Tonnern und hart überholenden PKW in Richtung Osten. Verdammt nochmal! Rechts der Truppenübungsplatz, links der Sumpf, also bleibt nichts weiter als "vorwärts!", bis ich endlich von der Straße abbiegen kann.

Schon gegen Mittag hat sich der Himmel ordentlich zugezogen und ich laufe durch eine seltsame Landschaft aus grünen Feldern, die offensichtlich von großen Baumaschinen vergewaltigt wurden. Die Wege sind eher breite Autobahnen aus getrocknetem Schlamm, der in der Hitze der letzten Tage Risse geworfen hat. Links bis zum Horizont frisch gebaggerte Gräben, rechts riesige Sandhügel. Und geradeaus sehe ich den ersten Gewitterberg am Himmel. Es donnert bedrohlich, ich kriege auch schon die ersten Tropfen auf den Kopf, aber irgendwie schaffen es der Wind und ich, unsere Wege so zu koordinieren, daß ich um das Gewitter herumlaufe.

Statt im Regen lande ich in einer heideartigen Landschaft, von Zäunen eingegrenzt, leere Schafställe aus Blech rosten in der Sonne vor sich hin. Ich sehe keine Tiere, keine Häuser, nur die Insekten schwirren wie immer um ich herum. 
Auch für den heutigen Tag habe ich nur meine komische Comic-Wanderkarte, also folge ich eher den Wegen, die sich mir so im Laufe des Tages anbieten, als aktiv durch die Landschaft zu navigieren.

Endlich den Matschautobahnen entkommen und wieder auf Asphalt unterwegs, höre ich hinter mir erneut Donnergrummeln und als ich mich umdrehe, präsentiert sich ein schönes Panorama einer Gewitterzelle, die auf mich zumarschiert. Oh. Über mir scheint zwar noch die Sonne, aber als ich das Mini-Dorf mit 3 Bauernhöfen und 4 Wohnhäusern durchquere, steht am Straßenrand ein schönes Bushäuschen aus Wellblech und bietet sich als schattiger Pausenplatz an. Mindestens! Vielleicht auch als Unterstand. Denn es sieht zwar so aus, als würde das Gewitter an mir vorbeiziehen, aber - wer weiß.

Nach 10 min Sitzen und Abkühlen knallt es plötzlich oben auf dem Dach, dann gleich nochmal und es hört sich so an, als würden faustgroße Hagelbrocken vom Himmel auf das Wellblech fallen. Sind aber nur Regentropfen - dicke, träge, flatschige Gewitter-Regentropfen. Ich freue mich über meinen kuscheligen Platz im Trockenen, während draußen für eine Viertelstunde die Welt untergeht. Die Straße verwandelt sich in einen Fluß, der Lärm des Regens auf dem Wellblechdach ist ohrenbetäubend und ich schiebe mehrfach meinen Rucksack von hier nach da, um ihn aus den Sturzbächen rauszuhalten, die durch irgendwelche Löcher im Dach kommen. Plötzlich ist der Spuk vorbei - genauso schnell, wie er gekommen ist. Als hätte jemand in die Hände geklatscht und auf dieses Zeichen hin wäre das Wasser abgedreht worden. Mißtrauisch bleibe ich noch ein bißchen sitzen und schaue der Sonne zu, wie sie wieder die Oberhand gewinnt und die Straße in ein dampfendes Bügelbrett aus Asphalt verwandelt.

Nochmal 10 min später verlasse ich dankbar mein kleines Bushäuschen, das inzwischen wieder im schönsten Sonnenschein erstrahlt. Auf die Dusche konnte ich echt verzichten.
Die Straße dampft, die Felder duften und ich ziehe zufrieden weiter. Wie gut, daß ich auf mein Bauchgefühl gehört habe und einfach mal in Ruhe Pause gemacht habe.

Aber schon eine gute Stunde später hat sich der nächste Gewitterschauer von hinten herangeschlichen. Erst als es nahezu gleichzeitig kracht, blitzt und zu regnen beginnt, nehme ich die Wolkenwand überhaupt wahr. Uah! -- und ich bin noch mitten auf dem Feld! Immerhin ist es nicht mehr weit bis zum nächsten Dorf und vermutlich auch bis zum nächsten Bushäuschen. Also Beine in die Hand genommen und Vollgas! Aber dieser Schauer ist noch schneller vorbei als der letzte, eigentlich schon fast in dem Moment, in dem ich in das rettende Bushäuschen einlaufe. Ich warte zur Sicherheit nochmal 10 min und dieses Spielchen wiederholt sich in den nächsten Stunden noch mehrmals, bis kurz vor Ełk dann endgültig die Sonne gewinnt.

Am Ende des Tages laufe ich relativ durchnäßt von Regenschauern, maximaler Luftfeuchtigkeit und anstrengenden Sprintetappen über die Schloßinsel im Ełker See in einen auf den ersten Blick vergleichsweise sympathischen touristischen Ort ein. Direkt an der Seepromenade liegt ein Pub, das relativ nette Apartments zu sehr günstigen Preisen vermietet und ich nehme mir gleich mal ein litauisches Bier to go mit aufs Zimmer. Abends überfresse ich mich total bei Salat und Pizza, liege komatös auf dem Sofa herum und bin so bewegungsunwillig, daß ich lieber dem Regen zuschaue, wie er auf dem Balkon meine zum Trocknen aufgehängten Klamotten wieder zum Tropfen bringt. Ach, das wird bis morgen Früh schon wieder werden...

Sonntag, 29. Mai 2016

Tag 34: Akute Unlust.

Tag 34/41: Dienstag, 24.05.2016
Nowe Guty nach Klusy
5,5 h / 24 km 

Spätes Frühstück, entspanntes Rumsitzen und Tee trinken, die Gastgeberin trägt nochmal frische Apfelpfannkuchen mit Puderzucker auf. Draußen knallewarm -- und ich habe heute überhaupt keinen Bock auf Laufen. Ich bin mäkelig, habe zu wenig geschlafen, weil es gefühlt schon ab 03:30 Uhr draußen hell ist. Aber vom Rummaulen ist bekanntlich noch niemand angekommen.

Also mit Uwe einen Treffpunkt und eine ungefähre Zeit für heute Nachmittag vereinbart, Rucksack aufgeladen, die Dorfstraße runter und zwei Kilometer weiter nach rechts aufs Feld abbiegen. Der Tag beginnt mit einem mittleren Umweg, weil ich erstmal um den riesigen Truppenübungsplatz östlich von hier herumlaufen muß. Meine unschuldige Frage an Uwe, wie ernst das Militär es denn hier mit dem Betretungsverbot nehmen würden, konnte durch ein einziges Wort beantwortet werden: Manöverzeit.

Also wühle ich mich über halb verwachsene Feldwege nach Nordosten, treffe auf dem Feld einen alten Mann, der so überrascht ist, daß er schlechte Laune bekommt und mich nicht zurück grüßt. Die Luft dampft in der Sonne zwischen den Feldern, ab und zu kommt wenigstens nochmal der Wind zurück und bringt der Haut willkommene Kühlung.

In Orzysz mache ich Pause auf dem frisch gemähten Rasen des Spielplatzes (ja, wieder mit kombinierten Fitness-Geräten) und beobachte einige Militärkolonnen, die vom Bahnhof aus auf die Hauptstraße einbiegen. Ansonsten ist es eine trostlose Kleinstadt, die nur aus der Garnison des polnischen Militärs und einem überdimensional großen Friedhof zu bestehen scheint. Immerhin finde ich hinter dem Campingplatz am Ortsende einen Weg, der elegant zwischen zwei Seen hindurchführt und mir gleichzeitig eine halbe Stunde auf der Landesstraße 16 erspart. Als ich letztendlich doch wieder auf die 16 treffe, parkt ein französisches Wohnmobil mitten auf dem Waldweg, darin ein mittagspausierendes Rentnerehepaar, das sich gehörig erschreckt, als ich plötzlich vor ihrer Windschutzscheibe auftauche.

Was ich inzwischen über Masuren gelernt habe: Es gibt ohne Ende Seen, aber du kommst nur relativ selten überhaupt bis ans Wasser ran. Die meisten Seen sind gesäumt von breiten Schilfgürteln und/oder sumpfigen Waldgebieten, so daß trotz Überfluß an Wasserflächen die Gelegenheiten, sich auch mal wirklich ans Wasser zu setzen, außerordentlich rar sind. Aber ich habe Glück und finde einen schattigen Platz mit einem 40 cm breiten Sandstrand und folge sofort dem Beispiel der französischen Rentner: Mittagspause. Ich sitze eine Stunde am Ufer herum, genieße den Wind, plätschere immer mal wieder mit den Füßen im Wasser herum und trinke meine Flaschen leer. Kann mich Uwe nicht einfach hier abholen? Dann könnte ich einfach sitzen bleiben und müsste nicht noch 3 h Laufen...

Ich weiß gar nicht richtig, was mich am heutigen Tag so quält. Eigentlich ist es ein abwechslungsreiches Wandern durch kühlen Wald und sonnig-glänzendes Feld, durch schlafende Dörfer im Nachmittagsschlaf. Die fehlende Übernachtungsmöglichkeit habe ich elegant gelöst, indem ich in Klusy abgeholt und morgen früh wieder dort hingebracht werde. Eigentlich läuft alles wunderbar, aber irgendwas in meinem Kopf hat auf Abwehr und Widerstand geschaltet. Und ich kriege es den restlichen Tag nicht mehr raus. Selbst so fettgedruckte Einladungen wie ein frisch gemähtes Stück Wiese neben einem kleinen Waldsee lasse ich später links liegen, weil ich irgendwas dran zu mäkeln habe (in diesem Fall: Iiiih, da sind ja Mücken...). Ich bin grundlos genervt und bin gleichzeitig genervt, daß ich genervt bin. Sonst hänge ich mir an solchen Tagen besser Musik in die Ohren, aber ausgerechnet heute habe ich den mp3-Player im Zimmer gelassen.

Ungefähr eine Stunde vor der vereinbarten Abholzeit komme ich in Klusy an und drehe erst nochmal eine Runde durchs Dorf, auf der Suche nach einem Sklep und heiß auf Getränke. Leider Fehlanzeige, vor der Kirche steht nur ein fliegender Händler, der aus deinem Anhänger heraus bunten Plastikkram feilbietet. Kinderspielzeug, Haushaltswaren, Dekoartikel. Nichts davon könnte ich heute gebrauchen.

Also verziehe ich mich wieder runter an die Bushaltestelle an der Landstraße und warte auf Uwe. Der kommt eine halbe Stunde später angebraust, auf dem Weg zurück nach Nowe Guty erzähle ich, was ich heute so an Wild gesehen habe. Uwe hält unvermittelt auf der 16 seinen Volvo an, knallt den Rückwärtsgang rein und biegt auf einen Waldweg ab. Kleiner Ausflug: Er zeigt mir in seinem Jagdrevier einige Ecken, an denen Elche zu finden sind -- witzigerweise ziemlich genau an Stellen, an denen ich heute schon vorbeigelaufen bin. Lange habe ich niemanden sein Auto so erbarmungslos durch den Wald prügeln sehen, aber ich sitze vollkommen entspannt auf dem Beifahrersitz, die Klimaanlage summt leise und ich kann endlich mal all die Jäger- und Försterfragen loswerden, die ich schon immer mal wissen wollte.

In meinem Zimmer erwartet mich der herrlich kalte Fliesenfußboden, ein Abendessen im Biergarten und die Erleichterung, den Tag irgendwie erledigt zu haben.

Samstag, 28. Mai 2016

Tag 33: Mücken-Invasion und Spiderbros.

Tag 33/40: Montag, 23.05.2016
Mikolaiki nach Nowe Guty
6,5 h / 29 km

"Bloß raus hier." Das ist alles, was ich heute früh im Kopf habe. Das Bett in meinem Zimmer war schlimm, eine 10 cm dicke Schaumstoffplatte auf knallharten Holzlatten. Durch das Laken scheint ein fetter Blutfleck auf der Matratze. Irgendwann in dieser schlaflosen Nacht habe ich einen Rappel bekommen und das zweite Bett in meinem Zimmer auseinandergenommen, um mir mit der zweiten Matratze und dem Bettzeug als zusätzliche Polsterung wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu stehlen.

Entsprechend genervt starte ich in den Tag. Wieder warm, wieder bis zu 27° angesagt. Der nächste Sklep liegt praktischerweise gleich gegenüber, ich decke mich mit Getränken ein und verliere kurz darauf erstmal meine Mütze. Kurze Panik, sofortiges Umdrehen und Zurücklaufen, aber ein freundlicher Mitmensch hat die Kappe schon gefunden und zum Finden an einen Pfosten gehängt. Uff!

Aber der Murks geht weiter. Statt den richtigen Weg aus der Stadt raus zu nehmen, nehme ich den falschen, weil ich zu stolz bin, auf die Karte zu gucken. Dafür lande ich überraschenderweise schick am Wasser und kann an der Uferpromenade entlanggehen, die aber in einer Sackgasse endet. Also marschmarsch zurück. Den ersten Kilometer Umweg habe ich also schon auf der Uhr, obwohl ich noch keine Stunde unterwegs bin. Gott sei Dank klappt wenigstens die Abkürzung, mit der ich mich wieder auf den richtigen Weg retten will: Vorbei an der sozialistischen Wohnanlage, durch den dazugehörigen Kleingärten und den Garagenhof, immer knapp an der Schweinemastanlage entlang. Endlich auf dem richtigen Weg kann ich den Kopf abschalten: Die nächsten Stunden geht es ganz entspannt immer nur geradeaus. Eigentlich laufe ich den ganzen Tag entlang des Jezioro Śniardwy, dem größten See der Masurischen Seenplatte.

Ein Auto kommt von hinten angefahren und wird langsamer, ein junges Paar fragt mich, ob sie mich ein Stück mitnehmen sollen. Ich ringe schwer mit mir, bleibe aber standhaft. Später am Tag wäre ich vielleicht schwach geworden, aber es ist gerade mal Mittag. Und überhaupt! Und tatsächlich sehe ich ihre Auto nur gute zwei Kilometer weiter an der See-Gaststätte auf dem Parkplatz stehen. Ich entschließe mich spontan zu zwei kalten Mittagsgetränken, um meine Flüssigkeitsvorräte im Rucksack zu schonen, setze mich auf die Terrasse des alten Gutshauses und blinzele in die Sonne. Für den Aussichtsturm am See bin ich zu geizig (30 PLN...), auch wenn der sicherlich einen klasse Blick präsentiert hätte.

Statt dessen ziehe ich weiter auf dem halb gepflasterten Rumpelweg Richtung Osten, durch sumpfiges Gelände, links und rechts des Weges undurchdringliches Dickicht. Es dauert nicht lange, bis mich die Mücken entdeckt haben. Und zwar so richtig! Schöner schattiger Wald, feuchter Boden, kein Wind: Der optimale Platz für die Biester. Das optimale Opfer für die Biester: Der Wanderer, der sich weigert, lange Klamotten anzuziehen und vergessen hat, sich wenigstens mit Autan o.ä. einzuschmieren. Erst sind es nur ein paar Mücken, die hinter mir herschwirren, aber alle paar hundert Meter wird der Pulk größer. Jedesmal, wenn ich einen Arm aus Versehen nach hinten schlenkere, kann ich förmlich in den Schwarm hineingreifen. Mein Schritt wird unwillkürlich schneller und ich kriege Gänsehaut -- was die Biester natürlich nur noch heißer macht. Mehr Schweiß, mehr Hautoberfläche. Ich kann gar nicht so schnell draufhauen, wie die Mücken zustechen, stehenbleiben will ich in dieser Situation aber bestimmt auch nicht. Links ein alter deutscher Bunker neben der Straße, ja danke, ist mir heute wurscht. Ein verwackeltes Foto kriege ich im Laufen noch hin, aber eine ausführliche taktische Geländeanalyse muß leider ausfallen. Rechts ein Picknickplatz, liebevoll vom örtlichen Forstamt in Schuß gehalten. Nö danke, ich muß weiter, kann nicht stehen bleiben. Ich schätze den Schwarm meiner persönlichen Begleiter inzwischen auf ca. 200 Exemplare, bis irgendwann! endlich! nach einer Ewigkeit! eine Waldlichtung auftaucht. Direkte Sonne, etwas Wind, und sofort ist der Spuk vorbei. Ich werfe den Rucksack ab, dusche förmlich in Autan, habe zwar danach immer noch dieselbe Horde hinter mir, aber sie halten etwas mehr Abstand. 

Zwei Kilometer weiter ist der Wald zu Ende, ich mache einen Wanderkarten-/Uhrenvergleich und stelle fest: So schnell bin ich wahrscheinlich noch nie 5 km gewandert. Ich brate zwar ab sofort in der Sonnenhitze des frühen Nachmittages, aber dafür ist es hier so schön windig, daß ich erstmal mit ausgebreiteten Armen am Feldrand stehe und glücklich den kühlenden Luftzug genieße.
Der Schulbus staubt mir auf der Schotterpiste entgegen, ich denke schon darüber nach, ob der wohl gleich wieder zurückkommt und mich ein Stück mitnehmen wil? Gott sei Dank tut er es nicht und ich komme nicht in Versuchung. 

Statt dessen drei Stunden Landstraße und immer vorwärts. Hört sich vielleicht schlimm an, ist heute aber tatsächlich herrlich. Zwischen den Dörfern entspannte Kühe, in den Dörfern alte Bauersfrauen, die sich mit ihren Männern zanken. Die Straße ist gesäumt von riesigen alten Alleebäumen, die einen schattigen Tunnel werfen und gleichzeitig genug Wind durchlassen, so daß man wohlig kühl darunter durchwandern kann. Autos kommen vielleicht so alle halbe Stunde mal, manchmal auch gar nicht. 

Allerdings: Kein Sklep in Sicht. Zur entspannten großen Pause fehlt Flüssiges. Meine Wasserflaschen sind schon länger leer getrunken und ich würde inzwischen jede Kittelschürze herzen, die mir was zu Trinken verkauft. Aber Pustekuchen. Statt dessen laufe ich an einer Galerie mit regionaler Kunst vorbei. Ugh! Weil es mir sowieso gerade an Flüssigkeit mangelt, fällt mir auf, daß ich den ach-so-berühmten See, um den ich gerade herumwandere, den ganzen Tag überhaupt nicht gesehen habe. Heute früh beim Loslaufen an der Promenade, ja -- aber seitdem? Erst kurz bevor ich wieder auf die verfluchte Landesstraße 16 treffe, sehe ich ganz kurz irgendwas ganz dahinten am Horizont glitzern.

Eigentlich letzte Chance für Getränke vor dem Ankommen: Okartowo. Es gibt einen Laden, aber aus mir im Nachhinein unerklärlichen Gründen lasse ich ihn links liegen, vielleicht weil ich mich noch etwas mehr aufs Ankommen freuen will. Als ich von der 16 abbiege, überholen mich von hinten zwei Reiseradler, grüßen freundlich und laut mit "Dień dobry!" über die Straße. Ich rufe zurück und fühle mich für die letzte Stunde motiviert. Drüben beim Sägewerk sitzen drei Großmütter auf der Bank im Schatten und gucken mir neugierig nach. Ich kann es mir nicht verkneifen, ihnen zuzuwinken, bevor ich im Wald verschwinde. Selbst auf die Entfernung kann ich sie noch Kichern sehen...

Der Motivations-Tiefpunkt folgt in Form eines Hinweisschildes für mein heutiges Übernachtungsetablissement. Ich habe übers Internet eine Übernachtung im "Panorama Lake Resort Uwe" gebucht, trotz des Namens. Es lag halt einfach am Nächsten, hat ein Restaurant und ganz gute Bewertungen. Uwe hat an der Kreuzung eine Werbetafel aufgestellt, die verspricht, daß es nur noch 1,3 km bis zu meinem Zimmer sind, aber mit einem Blick auf die Wanderkarte weiß ich, daß das gelogen ist. Es sind mindestens noch 4 Kilometer. Trotzdem sitzt die letzte Stunde ein kleiner Teufel in meinem Hirn, der mir ständig einreden will, daß meine Karte lügt und ich vielleicht doch schon hinter der nächsten Kurve am Ziel bin.

Mein Zimmer ist herrlich kühl und sonnenverbrannt wie ich heute bin, ziehe ich erstmal alle Vorhänge zu. Der geflieste Boden jagt mir wohlige Kälteschauer in die Füße und das Wasser aus dem Wasserhahn ist nach nur kurzem Laufenlassen so kalt, daß das Wasserglas an der Außenseite perlt. Nicht schwitzt, sondern perlt. Zu allem Überfluß gibt es eine Terrasse mit direktem Blick auf den See, der eher wie ein Meer wirkt.

Und es gibt tonnenweise Kroppzeug. Neben dem Wandschrank sehe ich aus den Augenwinkeln eine dicke Jagdspinne, draußen sind die Mücken wieder in ihrem Revier, und leider fehlt meinem Zimmer ein Fliegengitter am Fenster. Aber als ich gerade die Rolläden runterlassen will, sehe ich, daß es sich noch eine andere fette Spinne in meiner Wohneinheit gemütlich gemacht hat: Ihr Netz sitzt genau vor meinem gekippten Fenster. Obwohl ich nun wirklich kein Spinnenfan bin, beschließe ich, die doppelte Sicherung meiner Nachtruhe durch gleich zwei Spiderbros zu akzeptieren. Wenn eine Spinne auf das Fenster aufpasst und die andere das Innere des Zimmers übernimmt, wird das wohl in Ordnung gehen.

Bevor ich zum Essen rübergehe, hole ich nochmal tief Luft. Mich erwartet bestimmt ein verzweifelter Laden, der sich voll auf deutsche Touristen stürzt, um zu überleben. Aber es kommt alles anders. Statt dessen empfängt mich ein entspannter Uwe, der mit seiner polnischen Frau Grażyna seit 5 Jahren den Laden schmeißt, der Ton ist freundlich und familiär, es wird virtuos zwischen Polnisch und Deutsch gewechselt. Ich habe verraten, was ich hier gerade so mache und werde schnell zum Gesprächsthema Nummer 1 des Abends.

Die morgige Etappe hat eigentlich das Zeug dazu, ein kleiner Horrortrip zu werden. Ich habe keine passende Übernachtungsmöglichkeit gefunden und auch keine ordentliche Wanderkarte, um vielleicht ein paar passende Wege zu irgendwelchen Zeltplätzen an irgendwelchen Seen zu finden (nur die furchtbar grobe Comic-Wanderkarte, die ich in Mrągowo als Notvariante gekauft habe). Aber als sich Uwe mit einem Bier zu mir an den Tisch setzt (weil seine Frau schon am Nachbartisch sitzt), frage ich ihn einfach, ob er mich vielleicht morgen Nachmittag nach der Tour mit dem Auto abholen würde, so daß ich zwei Nächte hier bleiben kann. Knappe Antwort: Kein Problem, machen wir so.

Und der Abend ist gerettet. 

Ich trinke noch zwei Bier und bin genau rechtzeitig zurück in meinem Zimmer, um noch den Sonnenuntergang von meiner Terrasse aus zu fotografieren. Danach gehe ich schlafen, beschützt von meinen beiden Spiderbros.