Dienstag, 7. Juni 2016

Tag 41: Straßentag. (Also Schotter.)

Tag 41/50: Donnerstag, 02.06.2016
Vytautai nach Leipalingis
6 h / 30 km

Und wieder raus auf die Straße. Auf den ersten paar hundert Metern überholt mich ein altersschwacher Tankwagen aus Sowjetzeiten, in bezaubernder blau-gelber Lackierung. Sofort muß ich wieder daran denken, daß dieses europabegeisterte Land tatsächlich mal Teil der Sowjetunion war -- eine schräge Vorstellung. Manche Details sind vielleicht hängen geblieben, wie die Vorliebe für leicht salziges Mineralwasser. Oder die abwechselnd schwarz und weiß gestrichenen Bordsteine an den Bushaltestellen. Und eben ein paar ganz wenige alte LKW und Landmaschinen, die irgendwo vergessen herumstehen.

Wieder ist der Tag schon am Vormittag warm und stickig. Die Schotterstraße nach Petroškai führt durch den Wald und fühlt sich an wie eine Sauna. Die Feuchtigkeit der Nacht liegt als heißer Dampf zwischen den Bäumen. Aber nur 20 m weiter die Straße runter kommt vielleicht schon wieder eine Wolke aus kühler schattiger Luft, so daß ich in diesen Wechselbädern quasi schonmal Wellness üben kann. Das Dorf selber zieht sich schier endlos an der Straße entlang, links neben der Straße verläuft ein gepflasterter Fußweg, den wohl schon seit Jahren niemand mehr nutzt. Viele Häuser stehen leer (oder wirken zumindest so), kein Laden, nix. Nur rechts die Bauernhöfe und links die Wohnhäuser.

Der nächste große Ort kommt mir bekannt vor. Veisiejai. Kenn ich, kann ich. Liegt auch an meiner klassischen Autostrecke nach Druskininkai. Die Stadtoberen haben sich richtig Mühe gegeben, gegenüber vom Forstamt gibt es einen Park mit hölzerner Schnitzkunst, einem Teich, skandinavisch-akribisch gemähtem Rasen und: Schatten. Ich setze mich ins Gras, gucke dem Verkehr auf der Landstraße zu und würde als Krönung so gerne den 30 m hohen Feuerwachturm nebenan besteigen. Aber natürlich ist alles verrammelt und verriegelt, eingezäunt noch dazu. Doch der gute Eindruck bleibt. Vor dem Rathaus dann der nächste detailliert gestaltete Park, es gibt sogar ein Tourismusbüro (bzw. ein Schild, das auf ein Tourismusbüro hinweist, weiter bin ich der Sache nicht auf den Grund gegangen).

Mir aber steht der Sinn nach einer Rast am See. Die nächste Stunde wird fieses Kilometerfressen auf der Straße, aber die Karte macht mir auch Hoffnung darauf, daß ich dann vielleicht als Belohnung die Mittagshitze am Wasser verbringen könnte. Also nehme ich die Beine in die Hand und versuche, es hinter mich zu bringen. Die glühende Straße in der Mittagssonne schlucke ich brav, aber die ersehnte Belohnung bleibt aus. Statt See-Idylle gibt's nur Privatgelände, Zäune oder Gestrüpp. Ich finde nur einen einzigen winzigen Zugang zum Wasser, gerade mal 20qm groß: Von einigen Kindern aus den umliegenden Häusern belegt. Ich verzichte dankend darauf, mich dazuzulegen und ziehe statt dessen weiter nach Osten.

Immerhin finde ich eine halbe Stunde später doch noch einen schönen Platz. Oben auf einem Hügel, der Weg verläuft in einer schattigen Allee, der Wind kommt angenehm kühl von rechts und die fleißigen Bauern haben die größten Findlinge aus dem Feld geholt und schön in den Schatten neben die Bäume gelegt. Einen besseren Sitzplatz werde ich heute sicher nicht mehr finden, also nutze ich ihn. Ausgiebig.

Endspurt für heute. Daß es in Leipalingis einen Supermarkt gibt, wußte ich schon vorher. Aber ich hatte auch auf ein Café oder Restaurant gehofft, irgendwas wo ich mir nochmal ordentlich den Bauch vollschlagen könnte, bevor ich heute Abend wieder nichts zu Essen bekomme. Aber der Pizzaladen, den es wohl mal gab, gibt es nicht mehr -- dann kaufe ich halt den Supermarkt leer.
Als ich wieder vor der Tür stehe, könnte ich mich ohrfeigen für diesen unüberlegten Kaufrausch. Und es passiert mir jedesmal aufs Neue! Der Rucksack wird temporär um ca. 6 kg schwerer, weil ich neben Mineralwasser und Eistee auch noch einige Biere für heute Abend, zwei Luxus-Dosen Cola, zwei Gurken, ein paar getrocknete Mini-Würste und einen Liter Kefyras eingepackt habe. Den Preis für so viel unüberlegtes Raff-Kaufen zahlt mein Rücken auf dem Rest der heutigen Etappe.

Hinter dem Schrottplatz links auf die Schotterstraße abbiegen, so hatte ich es mir gemerkt. Alles Standard. Genauso wie  inzwischen auch meine Reaktion zur Gewohnheitssache geworden, wenn ich Autos von hinten kommen höre: zwei Schritte zum Fahrbahnrand und ganz an die Seite quetschen. Geht quasi automatisch und funktioniert auch immer gut, wenn die Autos gleichzeitig auch etwas ausweichen. Aber jetzt überholt mich ein weißer Audi mit Vollgas auf der Schotterstrecke, mit so wenig Abstand, daß ich seinen Außenspiegel an meinem Arm vorbeisausen hören kann. Dabei hätte er genug Platz gehabt, er ist schließlich das einzige Auto auf zwei Kilometern. Das war Absicht! Ich bin plötzlich so sauer, daß ich wahrscheinlich mit Steinen geworfen hätte, wenn vom Auto nicht schon längst nur noch die Staubfahne in der Luft übrig wäre... 

Grummelnd finde ich meinen Weg zwischen zwei Bauernhöfen hindurch, auf denen sich wohl in den letzten 50 Jahren kaum etwas verändert hat. Ich komme an der Landstraße nach Druskininkai raus, direkt neben dem seit Jahren leer stehenden Hotel Erebuni, das schon beim Vorbeifahren Mitleid erregt. Zu Fuß macht es auch keinen besseren Eindruck.

Mein Quartier für heute Abend ist irgendwo da drüben am See, also biege ich in die erstbeste Einfahrt und lande auf einem Campingplatz. Die Richtung stimmt, aber irgendwie bin ich hier dann doch falsch. Meine gebuchte Unterkunft ist offensichtlich die Villa aus Holz mit dem raspelkurz manikürten Rasen und dem mannshohen Holzzaun drumherum. Als ich gerade auskundschafte, wie ich wohl eine Abkürzung auf das Nachbargrundstück finde, kommen mir die Betreiberin des Campingplatzes und ihre Tochter entgegen, ich schaffe auf Litauisch immerhin eine ordentliche Begrüßung und die Aussage, daß ich leider nur wenig Litauisch spreche. Die beiden freuen sich trotzdem wie Bolle, daß ich ein paar Sätze ihrer Sprache herausholpern kann, aber für die Antwort auf die Frage, wo ich denn bitte überhaupt Litauisch gelernt hätte, wechsele ich doch wieder mit "Sorry, do you speak English?" in altbekanntes Fahrwasser. Verdammte Gewohnheiten! Es hätte natürlich heißen müssen: "Atsiprašau, ar jūs kalbate angliškai?" Ich kann das eigentlich noch, aber der Erstversuch auf Englisch hat sich in den letzten Wochen einfach so eingebrannt. Die Tochter zeigt mir einen schmalen Durchgang zum Nachbargrundstück am Ende des Zaunes und so lege ich bei meiner Zimmervermietung wohl einen etwas seltsamen ersten Eindruck hin, als ich quer durch den Garten angedackelt komme.

Aber alles ist entspannt, ein junges Paar betreibt den Laden und vermietet eigentlich hauptsächlich en gros an Hochzeiten und ähnliche Feiern. Meine Gastgeberin hat einige Jahre in den USA gelebt und ist angesichts meines Rucksacks neugierig auf mein Woher und Wohin. Wir unterhalten uns noch lange in der kühlen Eingangshalle des Hauses, später setze ich mich mit meinem Buch auf den Steg und genieße, daß der Abend langsam auch wieder kühle Luft mit sich bringt. Von den frisch eingekauften 6 kg Getränken und Lebensmitteln schaffe ich natürlich trotz forciertem Bierkonsum nur einen Bruchteil und freue mich schon inständig darauf, sie morgen mit mir über die Ziellinie schleppen zu dürfen...

Montag, 6. Juni 2016

Tag 40: Lietuva! -- Und... Danke, aus!

Tag 40/49: Mittwoch, 01.06.2016
Giby (PL) nach Vytautai (LT)
6 h / 25 km 

Das Frühstück ist genau mein Ding. Rührei mit geräuchertem Speck, Tomaten mit ein paar Zwiebelringen und ähnliches Glück. Inzwischen habe ich mich vollkommen an die polnische Art zu frühstücken gewöhnt und vermisse Marmelade & Co. kein bißchen. Als ich schon pappsatt auf meiner Bank sitze, erscheint Marian noch mit einer Brötchentüte und Aufschnitt-Nachschub: "Für die Straße!" Ich hab zwar im Moment null Lust darauf, schmiere mir aber trotzdem pflichtbewußt noch eine Wegzehrung, weil ich jetzt schon ahne, daß mich dieses Brötchen heute Abend vor einem leeren Magen bewahren wird. Ich habe im Netz für heute zwar eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden, die allerdings von Anfang an klargestellt hat, daß weder Abendessen noch Frühstück zu haben sind.

Zum Abschied kriege ich noch ein Stück vom frischen Šakotis geschenkt, eine Art Baumkuchen, der auf dem drehenden Spieß in einem speziellen Ofen hergestellt wird. Ein tierischer Aufwand, aber jetzt weiß ich immerhin auch, was gestern Abend beim Abendessen so verführerisch nach Kuchen gerochen hat. Offensichtlich ist die uralte Großmutter aus dem Nachbardorf vorbeigekommen, um bei Marian und Teresa in stundenlanger Arbeit den Kuchen zu gießen. Zusammen mit dem Brötchen sollte das meine Abendsättigung auf jeden Fall sichern. Zitat Wikipedia: "30-50 Eier auf ein Kilogramm Mehl"...

Heute geht's rüber nach Litauen. Also heißt es ab sofort: Umgewöhnen und die eingeübten polnischen Vokabeln austauschen. Ich bin heilfroh, daß meine Litauisch-Lehrerin nicht neben mir steht und verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, während ich im Geiste mein schwer eingerostetes Grundgerüst des Litauischen wieder hervorkrame. Aš esu iš Vokietija?-jos?-joje?

Nur ein paar hundert Meter hinter dem Haus vom Marian und Teresa biege ich von der DK 8 ab in Richtung Berzniki. Auch diese Kreuzung und die Straße kenne ich, sie führt später auf staubigen Schotterwegen zu einem halbwilden Grenzübergang im Wald. Genau hier habe ich mich "aus Abenteuerlust" schon mal über die Grenze geschlichen, jetzt schmunzele ich darüber und gehe ganz entspannt eine ganz normale polnische Nebenstraße entlang. Der Weg windet sich vorbei an einsamen Bauernhöfen und verfallenden Ferienanlagen am See, die dank EU-Fördermitteln ihr eigenes Mindesthaltbarkeitsdatum um 2 Jahre überlebt haben.

Auf einer kleinen Brücke mitten im Wald mache ist Rast, während der Wind die Mücken schön auf Abstand hält. Unten im glasklaren Wasser sehe ich tonnenweise kleine Fische, Muscheln und Wasserpflanzen. Hier ist die Welt offenbar noch in Ordnung. Angeblich soll man hier auch paddeln können, aber ich unterstelle einen massiven Mangel an Outdoor-Romantik. Schilf, Gestrüpp, Mücken, mehr Sumpf als See. Da gehe ich lieber zu Fuß. Durch den Wald!

Eine Stunde später treffe ich wieder auf die bekannte Forststraße, die rüber nach Litauen führt. Aber heute ist sie nicht ganz meine Richtung, ich will eher nach Nordosten. Also überquere ich die Straße, verschwinde im Dickicht, schlage mich auf schmalen Fahrspuren durch den Wald und orientiere mich ernsthaft eher nach dem Sonnenstand als nach der Karte. Das klappt erstaunlich gut und eine knappe Stunde später lande ich sogar ungefähr dort, wo ich rauskommen wollte.

Hinter einer Kurve sehe ich einen Schilderwald neben der Schotterstraße, das muß die Grenze sein. Auf den letzten Metern bekomme ich dann doch feuchte Augen: Ich habe Polen einmal komplett durchquert und bin stolz wie Bolle. Seit grob 7 Wochen bin ich jetzt unterwegs und da vorne endet dieses große und großartige Land, das ich in Kostrzyn betreten habe. Damals war noch zaghafter Frühling und alles sah halt irgendwie so alltäglich wie Brandenburg aus. Jetzt ist gefühlt der Sommer in voller Fahrt unterwegs, da vorne beginnt das gute kleine Litauen, und alles fühlt sich auf eine sehr schöne Weise fremd und aufregend an.  -- Ich schmunzele über die Unterschiede der beiden Staaten in der Wahrnehmung der EU: Auf den polnischen Schildern prangt trotzig nur das Staatswappen in rot und weiß, die litauischen Schilder tragen alle auch den EU-Kranz der gelben Sterne auf blauem Hintergrund. 


An der Landschaft ändert sich nicht viel, nur Nuancen. Es gibt plötzlich keine schattenspendenden Bäume mehr neben der Straße, nur noch Gebüsch. Die Hunde auf den Bauernhöfen laufen häufiger wieder frei durch die Landschaft. Die ausgedienten Autos (fast ausschließlich alte Audi- oder VW-Modelle) bleiben wie in den USA einfach hinter der Scheune stehen; Platz ist ja genug. Die sandigen polnischen Rumpelwege durch den Wald werden zu breiten Schotterstraßen, auf denen pro Stunde zwei Autos mit riesiger Staubwolke und mordsmäßiger Geräuschkulisse dem Horizont entgegen brettern. Aber auch hier in Litauen hält wie schon zuvor in Polen jedes vierte Auto an und fragt, ob ich mitfahren will.

Die letzten zwei Stunden schwitze ich mir die Seele aus dem Leib, weil mein Freund der Wind plötzlich weg ist und ich statt dessen zwischen den staubigen Feldern in der Sonne brate. Meine Übernachtung taucht plötzlich linkerhand auf, obwohl ich noch gar nicht damit gerechnet hatte, die Gastgeberin spricht perfektes Englisch und im Haus ist es wunderbar kühl. Ich springe zuerst in den hauseigenen See, der noch frühsommerlich fröstelig ist und schreibe dann eine kleine Getränke-Einkaufsliste, weil Reda angeboten hat, mir etwas aus dem Supermarkt mitzubringen.

Zum Abendessen gibt es den guten litauischen Kefyras, das Wegzehrungsbrötchen und den Baumkuchen von Marian und Teresa und ich sitze auf der Bank im Garten und gucke in den Abend hinein. Ein Jogger läuft nach links vorbei, offensichtlich ist er gerade erst losgelaufen: Trotz der hohen Temperaturen ist kein Tröpfchen Schweiß auf seinem T-Shirt zu sehen. Zwanzig Minuten später kommt er rechts über den Hügel zur zweiten Runde, das T-Shirt hängt ihm inzwischen lose und schweißgetränkt um den Hals. Bei seiner dritten Runde hat er das Shirt nur noch in der Hand und ich frage mich, was wohl in der vierten Runde kommen mag...?

Und bei aller Ruhe, Entspannung und Stolz über die vergangenen Wochen treffe ich hier endgültig die Entscheidung, meine Reise demnächst zu beenden. Ich werde nicht bis Estland weiterlaufen, sondern hier in Litauen noch zwei Tagesmärsche bis Druskininkai hinlegen, mich dort ein Wochenende lang an den Thermalquellen erfreuen und dann nach Berlin zurückkehren.
Mir ist in den letzten zwei Wochen massiv die Motivation verloren gegangen, auch wenn ich mich bemüht habe, das in meinem täglichen Geschreibsel möglichst nicht durchscheinen zu lassen. Viele der vergangenen Tage liefen nach demselben Schema ab: Aufstehen - Frühstücken - Loslaufen - den Tag/die Strecke erledigen - Ankommen - Abendessen - Schlafen. Eine sich endlos wiederholende Abfolge, die viel zu oft sich selbst genug war.

Ich fühle mich seit zwei Wochen ausgezehrt und kraftlos. Die Lust auf Abenteuer, Entdecken und Erleben ist zuletzt viel zu oft der Frage gewichen, wie ich am schnellsten meine Tagesetappe hinter mich bringe. Und ich merke: Die Luft ist raus. Nach den erreichten 1.000 km vorgestern, nach der erreichten Grenze zu Litauen heute. Ich wüßte gerade nicht, worauf ich mich in den nächsten Wochen noch freuen wollte, obwohl es dazu eigentlich mehr als genug Gelegenheit gäbe. Diese Lustlosigkeit läßt mich im Moment erheblich daran zweifeln, ob ich die kommenden Wochen wirklich genießen könnte. Und eigentlich habe ich mich viel zu sehr auf Litauen und den Rest des Baltikums gefreut, als daß ich mit meiner vorherrschenden Haltung von "Weiter! Durchhalten! Ankommen!" weitermachen möchte. 
Deswegen werde ich mir das Baltikum aufsparen, für das nächste Mal. Der litauische Kurort Druskininkai ist für mich auch ein schönes Ziel, quasi ein natürliches Ziel. Hier habe ich schon mehrmals Urlaub gemacht und die Region immer als Kleinod empfunden. Also werde ich die Tour schon in zwei Tagen nach ca. 1.100 km beenden -- an einem Ort, an den ich immer wieder gerne zurückkehren werde. Und der auch gut als Startpunkt für die Fortsetzung der Tour taugt -- denn die Centmünze, die ich an meinem ersten Tag vor den Toren Berlins gefunden habe, wartet bis dahin immer noch darauf, in Tallinn in die Ostsee geworfen zu werden.


Sonntag, 5. Juni 2016

Tag 39: Und wieso werde ich nicht kontrolliert?

Tag 39/48: Dienstag, 31.05.2016
Serwy nach Giby
5,5 h / 25 km

Ich war wirklich der einzige Gast gestern Abend. Und ich bin es auch noch beim Frühstück. Der Tisch ist ordentlich gedeckt, ich drehe wieder die Stereoanlage leiser (übrigens mit derselben CD wie gestern Abend) und während ich zufrieden eingelegte Pilze, schicke Spiegeleier und ähnliches mehr in mich hinein mampfe, bewegt sich plötzlich der Stuhl schräg gegenüber von mir wie von Geisterhand ein Stück nach rechts. Einfach so. Äääh --- wie bitte? Erst nach kurzem Innehalten und Wundern kriege ich mit, daß mir offensichtlich die gelbe Hotelkatze beim Frühstück Gesellschaft leistet und unter den Stühlen herumscharwenzelt. Wahrscheinlich hätte sie auch gerne was vom Frühstücksfleisch, dem Geräucherten oder vom Zwiebelfisch (den ich ganz bestimmt nicht essen werde). Aber kommt nicht in die Tüte!

Auf dem Weg zurück ins Zimmer hole ich mir meinen dritten Herzinfarkt, seit ich in diesem Hotel angekommen bin. Der Architekt des Hauses kam auf die glorreiche Idee, den Boden vor den Aufzügen mit Glaselementen zu gestalten, und zwar durchgehend in allen Stockwerken. Du trittst also gedankenverloren im 3. Stock aus dem Fahrstuhl und guckst plötzlich in einen Abgrund, irgendwo tief unter dir die Hotelhalle. So geht also offensichtlich Wellness: Die Belebung der Sinne. Der Typ sollte öffentlich ausgepeitscht werden!

Wieder auf der Landstraße schalte ich in den Sklep-Suchmodus, weil ich befürchte, daß mir die zwei Liter Leitungswasser in meinem Rucksack nicht die nötige Motivation für den heutigen Tag verleihen werden. Nachdem der erste Laden etwas länger geschlossen ist, gebe ich die Hoffnung auf, heute noch was zu finden. Den Rest des Tages bin ich eigentlich nur noch im Wald unterwegs. Aber wie immer hat Polen noch ein Ass im Ärmel, nur 200 m weiter gibt es einen gut versteckten Kellersklep, den ich eigentlich nur gefunden habe, weil davor mal wieder ein schnell und schräg geparktes Auto stand. Im Laden eine junge Dame mit Modelmaßen und entsprechenden Hotpants, die zackig schon die Preise meiner Getränke in die Kasse hackt, als ich sie gerade aus dem Regal nehme.

Wieder vorbei am klassischen Bild der letzten Tage: Einzelne Kühe, auf der Weide angepflockt, daneben der antike Audi 80 des Bauern, der die Tiere entweder gerade melken oder ein Stück weiterrücken will. Der Himmel läßt mich im Unklaren über seine Absichten, vielleicht regnet es heute noch ein bißchen. Immerhin ist es nicht ganz so ekelig warm wie gestern.

Die ersten zwei Stunden fädele ich mich wieder links und rechts der DK 8 durch die Landschaft. Wenn ich die Landstraße überquere, erkenne ich sogar einige Stellen wieder: Hier biste schonmal durchgefahren. Ein sehr seltsames, aber auch sehr anrührendes Gefühl. Selbst wenn ich mit dem Auto nach Litauen gebrettert bin, begann hinter Augustów für mich immer die Ferne, die Sehnsucht, das Abenteuer. Und jetzt bin ich zu Fuß hier.

Von der in der Wanderkarte versprochenen Schmalspurbahn durch den Wald (die ich gerne als Weg-Ersatz genutzt hätte) ist in der Realität nichts zu sehen. Nur ein Brückengerippe über den Fluß ist noch übrig, daneben ein Haus mit gleich drei kläffenden Hunden. Aus einem erschreckend schmalen Waldweg kommen mir zwei Kleinbusse der Straż Graniczna entgegen gedonnert und ich denke mir schon: "DAS ist der Moment, in dem ich endlich kontrolliert werde!" Aber die Jungs haben offenbar Besseres zu tun, als mich zwielichtigen Wanderer in Grenznähe zu filzen.

Aus Trotz suche ich mir sofort ein paar kleine Schmugglerwege durch das Waldstück vor mir, die ich mir nur mit ein paar einheimischen Mücken teile. Im nächsten Dorf wird's leicht spannend. Die Wanderkarte deutet ein Brückerl übers Bacherl zwischen den beiden Seen an. Die Satellitenkarten von Google Maps sahen das gestern Abend im Internet ähnlich, aber der Wanderer bleibt bis zur letzten Sekunde skeptisch. Mindestens eine Stunde Umweg wäre die Alternative, falls das nicht klappt. Also gebe ich mir größte Mühe, den richtigen Weg zu finden und hoffe inständig, daß die Brücke überhaupt existiert. Ich schlängele mich an einem Wochenendgrundstück mit einer skeptisch dreinblickenden Familie vorbei, folge einem Trampelpfad, der an einem Zaun endet und finde schließlich statt einer Brücke ein paar ordentliche Holzbretter über dem sumpfigen Fluß. Geht auch.

In meinem Zieldorf Giby steht direkt neben der DK 8 immer noch der riesige Kasten von Gebäude, der schon seit 5 Jahren so aussieht, als würde hier bald ein Hotel oder Restaurant eröffnen. Inzwischen ist er gelb, aber immer noch eine Baustelle. Gegenüber ein Sklep, den ich mir sofort für meine Abendversorgung merke. Weiter hinten die Kirche, auf deren Parkplatz sonst gerne die Straż Graniczna oder Policja stehen und Autofahrer rausziehen. Aber heute ist nix Grünes oder Silbernes zu sehen. Ich biege also leider unkontrolliert auf den Schotterweg zu meiner Agroturystyka ein. Dabei hätte ich so gerne auch aus Polen ein Bild geliefert wie damals, als ich Frankreich von der Gendarmerie gefilzt wurde.

Statt dessen wird's unerwartet heimatlich. Ich wackele mit "Dzień dobry!" auf den Hof und das Gespräch wechselt sofort ins Deutsche. Mein Gastgeber Marian hat in den 70ern einige Jahre im VEB Reifenkombinat Fürstenwalde (Stichwort: "Pneumant") gearbeitet und spricht ein erschreckend gutes Deutsch, garniert mit dem polnischen Singsang, den ich so liebe. Es gibt ein schönes Zimmer mit göttlich kühlem Raumklima und Picknickbank auf der Terrasse. Auch ein Abendessen geht überraschenderweise klar, obwohl ich mich schon auf ein Schokoriegel-Dinner aus dem Sklep eingestellt hatte. Statt dessen hausgemachte Buletten, Bigos, Kartoffelbrei mit Dill.

Duschen, dösen, die junge Hofkatze streicheln, dem entspannten Hofhund Egon dabei zugucken, wie er sich für ebenjene Katze verantwortlich fühlt und immer genau wissen muß, wo sie gerade ist.

Auf dem Weg zum Sklep (zwecks Getränkeversorgung) komme ich an der Kirche nebenan vorbei, ich habe offensichtlich gerade die  Zeit der Abendmesse erwischt. Die getragene und leicht leiernde Gesang des Priesters wird per Lautsprecher nach draußen getragen und gibt der Abendstimmung im leeren Dorf links und rechts der leeren Landstraße einen weltfremden Anstrich. Vor dem Sklep läuft der alte Ursus-Traktor im Leerlauf, der Bauer holt sich noch schnell zwei Feierabendbier. Ich tue es ihm gleich, erwische zwar aus Versehen zwei Warka-Apfel-Birne-Radler, aber was soll ich mich ärgern.

Es ist mein letzter Abend in Polen und ich sitze zufrieden auf meiner Terrasse, schaue mir einen abendlichen Regenschauer an, wühle in meinen Wanderkarten herum und freue mich auf morgen.

Samstag, 4. Juni 2016

Tag 38: 1.000 km voll.

Tag 38/47: Montag, 30.05.2016
Augustów nach Serwy
7 h / 26 km

So sieht Unlust aus: An einem furchtbar schwülen Morgen wach werden und quasi schon im Sitzen schwitzen. Die halbe Stunde Weg zur Postfiliale am Marktplatz von Augustów reicht völlig, um mich komplett zu erledigen. Aber das Paket mit den abgelaufenen Wanderkarten muß zur Post. Die inzwischen überflüssige Fleecejacke schicke ich gleich mit. Es ist so ekelig warm, daß mir selbst in der Warteschlange vor dem Schalter die Schweißperlen auf der Stirn stehen. Und dann macht die Tante hinter dem Tresen auch noch Streß, weil ich keine polnische Absenderadresse angegeben habe. "Hat bisher auch immer geklappt!" würde ich ihr gerne in ihr schlecht gelauntes Gesicht brüllen, aber ich kann ja Gott sei Dank kein Polnisch.

Raus aus der Stadt ist wie immer die größte Strafe. Aber die habe ich nach ganzen zwei faulen Tagen vielleicht auch ein bißchen verdient. Die Strecke heute ist mir ein bißchen unheimlich, weil ich viele Ecken schon vom Autofahren kenne. Hier, der Kreisverkehr. Die Brücke über den Kanal mit der schrägen Fußgängerschnecke obendrüber. Da die Abzweigung, bei der ich auf dem Weg nach Litauen immer auf die Nebenstrecke durch den Wald abgebogen bin. Eigentlich fädele ich mich den ganzen Tag mal links, mal rechts entlang der DK 8 in Richtung Vilnius.

Die Industriegebiete von Augustów ziehen sich extra-lang und es dauert ungefähr bis Mittags, bis ich zum ersten Mal so richtig aus der Stadt raus bin. Zum Trost gibt es aber gleich einen Mini-Strand am glasklaren See, eine Wiese zum Rumlungern und herrlich kaltes Wasser. Und Wind! Mittagspause.

Ungefähr da, wo der polnische Grenzschutz (Straż Graniczna) sonst immer steht und kontrolliert, treffe ich wieder auf die DK 8, erkenne die Brücke zwischen den zwei Seen mit der alten Schleuse dazwischen und spiele kurz mit dem Gedanken, in der Bar neben der Straße einen kleinen Mittagsimbiß zu snacken. Aber irgendwie ist es einfach zu warm, um Lust auf Essen zu haben.

In der Ferienhaussiedlung nebenan verlaufe ich mich erstmal heillos und latsche am Ende den ganzen Weg zur Straße sinnlos zurück. Als ich endlich den richtigen Waldweg finde, lockt schon ein kleines Schild mit einem 2 km entfernten "Pole biwakowe" am See. Der ist in meiner Karte auch eingezeichnet. Vor meinem geistigen Auge formt sich schon das Bild von einer sanft ansteigenden Wiese am See, mit einem schattigen Plätzchen für mich und meine Mittagsrast.

Aber ich finde im Wald keinen Zeltplatz, keine Wiese, noch nicht mal einen Trampelpfad runter zum Wasser. Nur Sonne, Hitze, Staub -- und Bremsen. Als ich frustiert stehen bleibe und den Rucksack absetze, um wenigstens mal zwischendurch etwas zu trinken, habe ich sofort zwei von diesen Biestern am Hals. Sie sind Gott sei Dank eher auf meinen Rucksack scharf und daher ganz gut zu erlegen, aber jetzt weiß ich, daß die vermeintlichen Wespen, die in den letzten Tagen immer wieder so zackig ihre Kreise um mich herum gezogen haben, in Wahrheit Pferdebremsen sind. Und die sind auch recht schmerzhaft, wenn ich mich an meinen letzten Biß vor zig Jahren erinnere.

Mein Forstweg führt träge durch den Wald und glüht in der Sonne. Ich hatte mich schwer auf eine Pause am Wasser gefreut, statt dessen sitze ich vollkommen erledigt für eine gute halbe Stunde auf einem Baumstumpf am Wegesrand, im Rücken den Zaun der Kiefernschonung. Hatte ich den heutigen Tag nicht eigentlich als "recht kurz, Kategorie Spaziergang" eingeordnet? Vielleicht von der Entfernung her, aber jeder Kilometer ist heute hart erarbeitet. Ich weiß gar nicht, wie warm es wirklich ist (wahrscheinlich sind es maximal 27 oder 28°), aber die Luft ist wie dicker Sirup und macht das Atmen zu einer Zumutung. Am Himmel überall Schauer- und Gewitterwolken -- von mir aus dürfte es jetzt gerne regnen, ich hätte überhaupt nichts gegen eine kleine Abkühlung.

Noch nicht mal eine Stunde nach meiner letzten Rast habe ich die Schnauze voll und knalle mich kraftlos einfach neben dem Weg ins Gras. Wenigstens ein bißchen Schatten. Ich suche aus meinem Rucksack die letzten Überreste meiner Getränke-Einkaufsorgie von gestern heraus (Kefir und Schweppes Lemon), trinke alles weg und sitze trotzig mit meinem Buch im Schneidersitz so lange im Gras, bis mir langsam wieder kalt wird. Inzwischen haben auch die Ameisen meine leeren Getränkeflaschen gefunden und ich bin kurz versucht, meinen von Ameisen übersäten Müll einfach getreu dem polnischen Vorbild im Wald liegen zu lassen. Grummelgrummel, kommt überhaupt nicht in Frage. Also wische ich die leeren Plastikflaschen wieder ameisenfrei, bevor ich sie im Rucksack verstaue und denke mit dabei: "Deutscher geht's echt nicht..."

Seit ein paar Kilometern laufe ich angeblich parallel zum "Kanal Augustówski", den die Polen schonmal vergeblich als Weltkulturerbe anmelden wollte. Seit ein paar Kilometer habe ich aber außer Bäumen auch nix von diesem Kanal gesehen, also ist es mir irgendwann auch schon egal, als ich bei Sucha Rzeczka wieder auf Asphalt treffe. Am Himmel nach wie vor überall Gewitter und ich bin vollkommen entsetzt, wie langsam ich heute vorangekommen bin. Als hätte das schwülwarme Wetter mein Lauftempo um gefühlt die Hälfte verringert.


Auf der Straße nach Serwy mache ich die 1.000 km seit Berlin voll, den Punkt hatte ich mir heute früh extra auf der Karte ausgemessen. Eigentlich ein festlicher Moment, aber ich bin gerade so erledigt, daß ich mich echt zusammenreißen muß.

Die letzte Stunde bis zu meinem Etappenziel kann ich rechts neben mir im Osten die nächste Gewitterfront sehen. Es donnert schon fleißig und mein Bauch sagt mir: "Das wird knapp..." Hinter mir donnert es, neben mir donnert es und ich ziehe schon unwillkürlich den Kopf etwas ein, aber ich schaffe es trocken bis zu meinem Hotel. Als ich auf den Parkplatz laufe, fallen die ersten Regentropfen (ich kann mir angesichts des geilen Timings die Becker-Faust nicht verkneifen) und noch bevor ich meinen Zimmerschlüssel in der Hand habe, geht draußen die Welt unter. Glück gehabt! Das hätte besser nicht klappen können!

Ich bin heute der einzige Gast in diesem riesigen Kasten, aber ich kriege trotzdem ein Abendessen. Die furchtbar schüchterne Kellnerin führt mich in einen riesigen Speisesaal mit rotem Teppich, wir verhandeln kurz auf Teil-Polnisch meinen Getränkewunsch und als sie in Richtung Bar verschwindet, drehe ich erstmal heimlich die plärrende Stereoanlage leiser, die mich mit Musik unterhalten soll. Für den Gast nur das Beste. Gerade als ich denke, die Kellnerin wird nie kommen, um mir eine Essensbestellung zu ermöglichen, landet eine Suppe vor mir. Erbse? Dann ein Schnitzel mit Kartoffelecken und einem ziemlich geilen Krautsalat. Ungefähr hier fällt mir wieder ein, daß ich seit mindestens 4 Abenden nichts (im polnischen Sinne) Ordentliches gegessen habe. Und zum Abschluß überrascht mich noch ein Stück Nußkuchen. Nichts davon habe ich bestellt, aber alles brav aufgegessen.

Freitag, 3. Juni 2016

Tag 37: Schöne Pflichten.

Tag 37/46: Sonntag, 29.05.2016
Kalinowo - Augustów
5 h / 25 km

Ursprünglich wollte ich ja nur einen Tag Pause in Augustów machen, aber ich bin gestern einfach nicht in die Gänge gekommen. So wurde aus einem kleinen Stopover dann doch spontan ein Aufenthalt von 4 Nächten. Die letzten zwei Tage bin ich im Wesentlichen nur faul herumgelegen - und es war herrlich. Mal im Bett, mal am See, mal im Park.

Insofern fühlt sich die heutige Aufgabe (mit dem Bus zurück nach Kalinowo fahren, dann das noch fehlende Stück Weg bis Augustów laufen) eigentlich eher nach Strafarbeit an. Wenigstens kann ich entspannt ausschlafen, mein Bus geht sowieso erst um 11:00 Uhr. Am kleinen Busbahnhof von Augustów ist tote Hose, am Ende sind wir ganze zwei Fahrgäste. Der Bus ist ein charmanter knallorangener Autosan aus den 80er Jahren, ausgestattet mit Klimaanlage für den Fahrer (= Ventilator) und 4-Gang-Schaltgetriebe. Fährt immerhin 60 km/h. Der Fahrer kennt aber auch noch den geheimen Renngang: Wenn man nämlich bergab auskuppelt und rollen läßt, läuft die Karre sogar fast 70 km/h! So langsam und entspannt war ich noch nie auf einer polnischen Landstraße unterwegs.

In Kalinowo springe ich aus dem Bus und mache mich etwas lustlos auf den Weg zurück nach Augustów. Erstmal wieder an der Straße entlang gondeln, die ich dank dünnem Sonntagsvormittagsverkehr fast für mich alleine habe. Und nach dem ersten Abbiegen auf einen Feldweg ist sowieso alles Spaziergang. Es ist sonnig und warm, etwas windig und obwohl es erst Ende Mai ist, fühlt es sich richtig nach Sommer an.

In den Dörfer reparieren Männer ihre Autos, Großmütter sitzen auf ihren Holzbänken im Schatten, Familien tummeln sich im Garten. Es hat was von Kino, alle paar Minuten für einen Moment in ein neues Leben zu blicken. Ich gehöre nicht dazu, rutsche einfach ganz heimlich wie ein Gespenst durch die Dörfer; manchmal durchquere ich eine kleine Siedlung, ohne daß mich jemand wahrnimmt. Noch nicht mal die Hunde...

Die Aussicht auf dem Feld ist großartig und weit, die Grüntöne leuchten mit dem Himmel um die Wette und ich fange an, den Tag viel mehr zu genießen, als ich es anfangs für möglich gehalten hätte. Eigentlich passt alles. Die theoretischen Wege aus der Wanderkarte existieren auch praktisch, es geht sich lockerleicht auf breiten Feldwegen und stillen Asphaltstraßen und ich genieße den Blick und den Wind nochmal in vollen Zügen. Ab morgen werde ich für mehrere Tage fast ausschließlich im Wald unterwegs sein und so sehr ich mich darauf freue, so sehr werde ich die Weite und den Horizont vermissen.






Im nächsten Dorf der übliche Mix aus alten Bauernhöfen und neu hingeklatschten Häusern. Aus dem Garten des Einfamilienhauses rechts neben der Straße bellen mich zwei große Hunde an, nichts Ungewöhnliches. Ich habe mir inzwischen angewöhnt, immer mal kurz hinzugucken, wenn irgendwo eine Hundealarmanlage losgeht. Ist der liebe Wauwau angekettet, ist das Grundstück eingezäunt oder läuft er vielleicht - wie manchmal auf Bauernhöfen - frei herum? In diesem Fall alles gut, ordentlicher Zaun, geschlossene Tore. Also ignorieren und weiter.
Ich bin an dem Grundstück schon vorbei, als von schräg hinten einer der großen Hunde angebrettert kommt -- und der will nicht spielen oder auch nicht kuscheln. Offensichtlich ist er irgendwo hinten im Garten über den Zaun gesprungen und steht jetzt brüllend und drohend mit gefletschten Zähnen vor mir. Das Adrenalin schießt mir in die Blutbahn, eigentlich habe ich keine Angst vor Hunden, aber eigentlich habe ich auch nie solch aggressive Biester vor mir. Ich versuche es erstmal mit langsamen Weitergehen, keine gute Idee, als ich dem Vieh den Rücken zudrehe, kommt er mir gefährlich nahe. Langsamer Rückzug rückwärts, mit ruhigen Worten und ausgestreckter beschwichtigender Hand funktioniert besser. Als ich weit genug weg bin, sehe ich den Hund stolz die Straße auf und ab paradieren. Mistvieh! Immerhin: Glimpflich ausgegangen. Der Radfahrer, der kurz nach mir an der gleichen Stelle vorbeifährt, muß sich am Ende sogar mit Fußtritten wehren.

Andererseits: Das war die zweite Hundeattacke in Polen überhaupt und die erste, die man überhaupt ernstnehmen konnte (die andere war nur eine kläffende Fußhupe). Auch wenn es sich überhaupt nicht gut anfühlt, plötzlich so einem aggressiven Vieh gegenüber zu stehen, habe ich mir das mit den Dorfhunden insgesamt viel schlimmer vorgestelllt. Mal gucken, wie das in Litauen weitergeht.

Nördlich von mir ist in den letzten zwei Jahren eine neue Schnellstraße gebaut worden, von der meine Wanderkarte noch nicht so richtig was weiß. Bevor ich wieder sinnlose Umwege laufe, weil ich dank Zaun neben der Schnellstraße nicht rüberkomme, entscheide ich mich lieber gleich dafür, die letzten Kilometer auf der DK 16 zu laufen. Da weißte wenigstens, waste hast. Ist sowieso nicht viel los, das Bankett ist frisch gemäht und ich kann die letzten Kilometer entspannt im Gras laufen.

Mich überholt ein alter Traktor mit Wasserfaß hintendran, der Sohn des Bauern reitet hinten auf dem Faß und grüßt mich freundlich über die Straße.

Als ich den Ortsrand von Augustów erreiche, sieht es am Himmel schon wieder mächtig nach Gewitter aus. Ich peile noch einen Supermarkt an, kaufe tonnenweise Getränke (Gesamtvolumen: ca. 8,5 Liter). Keine Ahnung, wer das alles bis morgen früh trinken soll, aber ich halte das in diesem Moment offensichtlich für notwendig. Außerdem suche ich mir eine kleine Brotzeit zusammen, ich habe bei dem Gewitterwetter keine Lust, nochmal die halbe Stunde in die Ortsmitte zu laufen.

Und so beende ich die ungeliebte Pflichtetappe entspannt und zufrieden. Eigentlich war es eher ein schöner Sonntagsspaziergang, von mir aus kann es ab jetzt ruhig regnen. Noch vor dem Duschen trinke ich ein eiskaltes Warka Radler (das übrigens auch in Polen Radler heißt) und verbringe den Rest des Abends glücklich in meinem kleinen Zimmer in der stillen Pension.

Donnerstag, 2. Juni 2016