Freitag, 3. Juni 2016

Tag 37: Schöne Pflichten.

Tag 37/46: Sonntag, 29.05.2016
Kalinowo - Augustów
5 h / 25 km

Ursprünglich wollte ich ja nur einen Tag Pause in Augustów machen, aber ich bin gestern einfach nicht in die Gänge gekommen. So wurde aus einem kleinen Stopover dann doch spontan ein Aufenthalt von 4 Nächten. Die letzten zwei Tage bin ich im Wesentlichen nur faul herumgelegen - und es war herrlich. Mal im Bett, mal am See, mal im Park.

Insofern fühlt sich die heutige Aufgabe (mit dem Bus zurück nach Kalinowo fahren, dann das noch fehlende Stück Weg bis Augustów laufen) eigentlich eher nach Strafarbeit an. Wenigstens kann ich entspannt ausschlafen, mein Bus geht sowieso erst um 11:00 Uhr. Am kleinen Busbahnhof von Augustów ist tote Hose, am Ende sind wir ganze zwei Fahrgäste. Der Bus ist ein charmanter knallorangener Autosan aus den 80er Jahren, ausgestattet mit Klimaanlage für den Fahrer (= Ventilator) und 4-Gang-Schaltgetriebe. Fährt immerhin 60 km/h. Der Fahrer kennt aber auch noch den geheimen Renngang: Wenn man nämlich bergab auskuppelt und rollen läßt, läuft die Karre sogar fast 70 km/h! So langsam und entspannt war ich noch nie auf einer polnischen Landstraße unterwegs.

In Kalinowo springe ich aus dem Bus und mache mich etwas lustlos auf den Weg zurück nach Augustów. Erstmal wieder an der Straße entlang gondeln, die ich dank dünnem Sonntagsvormittagsverkehr fast für mich alleine habe. Und nach dem ersten Abbiegen auf einen Feldweg ist sowieso alles Spaziergang. Es ist sonnig und warm, etwas windig und obwohl es erst Ende Mai ist, fühlt es sich richtig nach Sommer an.

In den Dörfer reparieren Männer ihre Autos, Großmütter sitzen auf ihren Holzbänken im Schatten, Familien tummeln sich im Garten. Es hat was von Kino, alle paar Minuten für einen Moment in ein neues Leben zu blicken. Ich gehöre nicht dazu, rutsche einfach ganz heimlich wie ein Gespenst durch die Dörfer; manchmal durchquere ich eine kleine Siedlung, ohne daß mich jemand wahrnimmt. Noch nicht mal die Hunde...

Die Aussicht auf dem Feld ist großartig und weit, die Grüntöne leuchten mit dem Himmel um die Wette und ich fange an, den Tag viel mehr zu genießen, als ich es anfangs für möglich gehalten hätte. Eigentlich passt alles. Die theoretischen Wege aus der Wanderkarte existieren auch praktisch, es geht sich lockerleicht auf breiten Feldwegen und stillen Asphaltstraßen und ich genieße den Blick und den Wind nochmal in vollen Zügen. Ab morgen werde ich für mehrere Tage fast ausschließlich im Wald unterwegs sein und so sehr ich mich darauf freue, so sehr werde ich die Weite und den Horizont vermissen.






Im nächsten Dorf der übliche Mix aus alten Bauernhöfen und neu hingeklatschten Häusern. Aus dem Garten des Einfamilienhauses rechts neben der Straße bellen mich zwei große Hunde an, nichts Ungewöhnliches. Ich habe mir inzwischen angewöhnt, immer mal kurz hinzugucken, wenn irgendwo eine Hundealarmanlage losgeht. Ist der liebe Wauwau angekettet, ist das Grundstück eingezäunt oder läuft er vielleicht - wie manchmal auf Bauernhöfen - frei herum? In diesem Fall alles gut, ordentlicher Zaun, geschlossene Tore. Also ignorieren und weiter.
Ich bin an dem Grundstück schon vorbei, als von schräg hinten einer der großen Hunde angebrettert kommt -- und der will nicht spielen oder auch nicht kuscheln. Offensichtlich ist er irgendwo hinten im Garten über den Zaun gesprungen und steht jetzt brüllend und drohend mit gefletschten Zähnen vor mir. Das Adrenalin schießt mir in die Blutbahn, eigentlich habe ich keine Angst vor Hunden, aber eigentlich habe ich auch nie solch aggressive Biester vor mir. Ich versuche es erstmal mit langsamen Weitergehen, keine gute Idee, als ich dem Vieh den Rücken zudrehe, kommt er mir gefährlich nahe. Langsamer Rückzug rückwärts, mit ruhigen Worten und ausgestreckter beschwichtigender Hand funktioniert besser. Als ich weit genug weg bin, sehe ich den Hund stolz die Straße auf und ab paradieren. Mistvieh! Immerhin: Glimpflich ausgegangen. Der Radfahrer, der kurz nach mir an der gleichen Stelle vorbeifährt, muß sich am Ende sogar mit Fußtritten wehren.

Andererseits: Das war die zweite Hundeattacke in Polen überhaupt und die erste, die man überhaupt ernstnehmen konnte (die andere war nur eine kläffende Fußhupe). Auch wenn es sich überhaupt nicht gut anfühlt, plötzlich so einem aggressiven Vieh gegenüber zu stehen, habe ich mir das mit den Dorfhunden insgesamt viel schlimmer vorgestelllt. Mal gucken, wie das in Litauen weitergeht.

Nördlich von mir ist in den letzten zwei Jahren eine neue Schnellstraße gebaut worden, von der meine Wanderkarte noch nicht so richtig was weiß. Bevor ich wieder sinnlose Umwege laufe, weil ich dank Zaun neben der Schnellstraße nicht rüberkomme, entscheide ich mich lieber gleich dafür, die letzten Kilometer auf der DK 16 zu laufen. Da weißte wenigstens, waste hast. Ist sowieso nicht viel los, das Bankett ist frisch gemäht und ich kann die letzten Kilometer entspannt im Gras laufen.

Mich überholt ein alter Traktor mit Wasserfaß hintendran, der Sohn des Bauern reitet hinten auf dem Faß und grüßt mich freundlich über die Straße.

Als ich den Ortsrand von Augustów erreiche, sieht es am Himmel schon wieder mächtig nach Gewitter aus. Ich peile noch einen Supermarkt an, kaufe tonnenweise Getränke (Gesamtvolumen: ca. 8,5 Liter). Keine Ahnung, wer das alles bis morgen früh trinken soll, aber ich halte das in diesem Moment offensichtlich für notwendig. Außerdem suche ich mir eine kleine Brotzeit zusammen, ich habe bei dem Gewitterwetter keine Lust, nochmal die halbe Stunde in die Ortsmitte zu laufen.

Und so beende ich die ungeliebte Pflichtetappe entspannt und zufrieden. Eigentlich war es eher ein schöner Sonntagsspaziergang, von mir aus kann es ab jetzt ruhig regnen. Noch vor dem Duschen trinke ich ein eiskaltes Warka Radler (das übrigens auch in Polen Radler heißt) und verbringe den Rest des Abends glücklich in meinem kleinen Zimmer in der stillen Pension.

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