Samstag, 7. Mai 2016

Tag 15: Zeltplatzsuche - lieber schön oder lieber schick?

Tag 15/19: Montag, 02.05.2016
Krajenka nach Zelt (Jez. Borowne bei Kujan)
6 h / 25 km

Draußen: Heldenwetter. Ich habe ein Lächeln der Vorfreude im Gesicht kleben, als ich den netten Gasthof verlasse und Richtung Ortszentrum zum Einkaufen ziehe. Eigentlich reicht mein Plan für heute nur genau bis zum Biedronka hinter der Kirche: Proviant einkaufen. Dann weiterwandern und mal gucken, wo ich heute landen werde. Als ich vor ein paar Tagen mögliche Übernachtungsangebote für diese Nacht gesucht habe, war das Internet absolut blank. Selbst so verzweifelt-zwielichtige Ideen wie "bis X wandern, dann mit dem Bus nach Y weiterfahren, um am nächsten Morgen wieder bei X anzusetzen" sind vorne und hinten nicht aufgegangen. Nach guten zwei Stunden Recherche hatte ich mich irgendwann gefragt, wozu ich eigentlich das Zelt dabei habe und es gut sein lassen.

Und so laufe ich nun los, mit ungewissem Ziel. Sonst stört mich diese Unsicherheit gewaltig, aber heute ficht mich das irgendwie nicht an. Und genau aus dieser Entspannung heraus kommt wohl auch das erwähnte Lächeln der Vorfreude. Wird schon werden...

Im örtlichen Biedronka nehme ich mir viel Zeit, eine nahrhafte und dennoch leicht zu tragende Auswahl für Abendbrot und Frühstück zusammen zu stellen. An der Kasse steht das Dorfmaskottchen und erzählt jedem und jeder eine Geschichte, von meiner verstehe ich außer der Anrede "Panie Turysto!" eigentlich nix.

Raus in die Alleen, raus in den Wald. Gleich im ersten Dorf hat sich die Dorfgemeinschaft einen schicken Grillplatz gebastelt, mit Badesteg im aufgestauten Fluß und allem Drum und Dran. Auch wenn ich aus Schlendergründen Lust darauf hätte: Für eine Pause ist es irgendwie noch ein bißchen zu früh. Mein Hochmut wird sofort bestraft: Gleich hinter der nächsten Kurve wird die Idylle sofort von Schweinemastställen und flachem Feld platt gemacht. Soweit das Auge reicht. Und das hält für einige Kilometer.

Dafür quatscht mich im nächsten Dorf Swieta ein alter Mann an, der eigentlich gerade seine Haustür repariert. Das Gespräch endet erfreulicherweise nicht in der klassischen sprachlichen Sackgasse, weil er ein paar sehr große Brocken deutsch kann. Ich erzähle ihm, was ich hier gerade so mache und ehe mich versehe, bin ich auf ein Bier eingeladen und wir sitzen auf seiner Veranda. Über mir hängen die Angeln im Gebälk, links der Verschlag mit den Hühnern und wir jeder mit einem kalten Żubr in der Hand. Wir unterhalten uns eine halbe Stunde, studieren dabei ausgiebig meine Karten und als die Ehefrau im Garten keifend die Wäsche aufhängt, weiß ich, daß ich mich besser verabschieden sollte. Fester Händedruck, zum Abschied erhalte ich die Anweisung: "Wenn du nächstes Mal in der Nähe bist, kommst du einfach direkt vorbei!"

(Pic unrelated.)
Wieder auf dem Feld muß ich erstmal meine Rührung verarbeiten. Ich bin in all meinen Jahren Wanderei noch nie von einem -- "Anwohner" zu irgendwas eingeladen worden. Normalerweise beobachten Anwohner argwöhnisch den Wanderer, der sich in ihrer Straße herumtreibt, durch ihr Dorf zuckelt und womöglich den Frieden stört! Und jetzt schlendere ich hier einfach so durch ein fremdes Land, bei dem manche nur an gestohlene Autos denken und werde zum Mittagsbier hereingebeten. Wenn das so weitergeht, wird sich Polen auf seinem schon speziellen Platz in meinem Herzen noch ganz schön viel breiter machen.

Weiter hinten im Wald stelle ich meinen Suchmodus auf "Zelten?" um. Die Karte verspricht linkerhand einen großen See, an dessen Ufer doch irgendwie... Ich stolpere über Wege und Waldschneisen, die in keiner Karte verzeichnet sind. Eine der Schneisen wurde umgepflügt und überall liegen Kartoffeln herum (mitten im Wald; ein sehr seltsamer Anblick...) -- das wird sicherlich kein Service für zeltende Wanderer sein.  Vielleicht eher ein Angebot an die örtliche Wildpopulation, doch bitte lieber tief im Wald zu speisen als auf Bauers Feld?

Mir hingegen steht nicht der Sinn nach Kartoffeln, sondern nach einem lauschigen Platz am Wasser. Der Weg führt mich durch sumpfige Auwälder und gefühlt ins hinterletzte Nirgendwo, aber der Wanderer sieht an den Pferdeäpfeln auf dem Weg, daß das hier keine Sackgasse sein wird. Immer wieder biege ich nach links ab und suche am Ufer nach einem passenden Platz für mein Zelt; wildromantisch isses ja, erinnert mich irgendwie an Schweden. Aber alle schönen Stellen am Wasser sind zu steil und alle flachen Stellen sind irgendwie zu sumpfig.

Voll im Suchmodus biege ich noch ein paar Mal um die Ecke und stehe plötzlich auf einer großen Wiese im Wald. Mit pompös-riesiger Grillhütte inkl. gemauerter Feuerstelle. Mit Landschaftsmöblierung zum Sitzen. Davor ein polnisches Schild, das Google mit "Verwendung der Einrichtung nur nach Zustimmung der Forstbehörde" übersetzt, aber ich kann ja Gott sei Dank kein Polnisch. Es gibt sogar ein putziges kleines Plumpsklo mit Herzchen in der Tür (was so dermaßen der Klischee-Vorstellung von einem Plumpsklo entspricht, daß ich mich am Ende ärgere, es nicht fotografiert zu haben). Look no further, weary Wanderer. Was willste denn noch! Naja, so riiichtig am See liegt die Wiese ja nicht, also muß ich doch nochmal gucken. Der Weg da hinten führt in einer schönen geschwungenen Kurve zum Wasser und am Ufer findet sich der nächste optimale Zeltplatz. Jetzt stehe ich also vor der Auswahl zwischen schön und schick. Schön praktisch auf der Wiese mit zum Sitzen und Feuerstelle oder schick romantisch am See mit Blick aufs Wasser? Der geneigte Leser mag sich anhand dieser fotografischen Aufnahmen ein ungefähres Bild von meinem Dilemma machen:



Ich entscheide mich aus praktischen Gründen für die Wiese: diverse Sitzmöbel und die Möglichkeit, das Zelt so aufzustellen, daß morgen früh die Sonne drauf scheinen wird, um die Nachtfeuchte zu trocknen. Ich weiß, die meisten hätten sich wohl für das Ufer entschieden, aber Pragmatismus wins. In der Abendstimmung ist das Ufer noch klar im Vorteil, aber es hätte den ganzen Morgen im klamm-feuchten Schatten gelegen. Und ich mittendrin.

Später am Abend mache ich mir ein flottes kleines Feuer, um meine eingekaufte Auswahl an nahrhaften und leichten Lebensmitteln zuzubereiten: Würstchen (die, wie ich leider erst nach dem Grillversuch merke, in einer seltsamen Plastikhülle zum Kunden kommen und obendrein grauenhaft schmecken), ein labberiges Stück Brot und ein Stück Brie, das schwer nach Fuß riecht und die Konsistenz von halbfestem Badewannen-Silikon hat. Glückwunsch; gute Auswahl! Ein Gute-Nacht-Bier habe ich mir nicht gekauft (zu schwer), also gibt's halt nen Schokoriegel als Dessert. Ein unbefriedigendes Mahl, was meine Laune allerdings nicht weiter beeinträchtigt. Dafür ist der gefundene Zeltplatz einfach zu schön.

Interessanterweise verfügt meine Waldwiese (ca. 5 km vom nächsten Ort mit ca. 10 Häusern entfernt) über mobiles Internet in LTE-Geschwindigkeit, aber nach nur 5 Minuten Surfen finde ich den Kontrast zwischen Technik und Aufenthaltsort so seltsam, daß ich das letzte Licht lieber mit Lesen verbringe. Als die Sonne untergeht, wird es richtig schnell richtig kalt. Die Vögel machen noch eine gute halbe Stunde nach Sonnenuntergang Krach, danach wird es innerhalb von Minuten totenstill. Ich krieche in meinen Schlafsack, lausche wieder viel zu lange viel zu ängstlich in die Nacht, ob da vielleicht Förster F, Wildschwein W oder sonstwas S zu hören ist.

Aber nichts dergleichen. Kurz nachdem ich das Licht ausgemacht habe, läuft mir noch eine Zecke über die Hand, die erstmal kaltgestellt werden will. Ich verfluche das Vieh, weil dadurch die Erinnerung an die zahlreichen Zecken, die ich heute von meinen Beinen verwiesen haben, wieder wach wird. Und in der Zeit bis zum Einschlafen ist jedesmal, wenn irgendwas juckt oder kratzt, dieselbe Routine fällig: Schlafsack auf, Lampe an, Stelle inspizieren, Schlafsack zu, Lampe aus, dreimal Umdrehen bis die richtige Position wiedergefunden ist. Aber abgesehen davon wird es eine ruhige, entspannte und leider auch kalte Nacht. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen ist ein tiefer Seufzer der Zufriedenheit über diesen schönen Tag, die Freiheit der Ziellosigkeit, das Glück des tollen Zeltplatzes und die Vorfreude auf morgen.

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