Samstag, 14. Mai 2016

Tag 21: Zu stolz, um umzudrehen.

Tag 21/26: Montag, 09.05.2016
Osiek nach Rakowiec 
(naja, irgendwo an der Landstraße)
5,5 h / 23 km

Der Morgen ist warm und klar, ich packe in Ruhe mein Zeug zusammen, bezahle meine 25 PLN und bin aus der Tür. Das fehlende Frühstück hole ich nur ein paar hundert Meter weiter am See nach, indem ich mir den ersten Liter Wasser in den Magen gurgele. Der Tag wird nicht allzu lang werden, also ist Zeit zum Bummeln. Der erste Holzstapel im Wald gehört mir, ich mache erstmal eine ordentliche Frühstückspause mit dem eigenwilligen Zitronenkuchen aus dem Sklep von gestern, lese ein paar Kapitel, rutsche auf meinem Baumstamm mal nach links und mal nach rechts, um entweder mehr im Schatten oder mehr in der Sonne zu sitzen. Der Platz ist lauschig, gehört aber offenbar den Mücken, die irgendwann auch mit Nachdruck ihr Territorium zurückfordern.


Auf die Mücken komme ich übrigens nicht nicht ganz klar. Seit gestern sind sie plötzlich immer und überall, als hätte sie jemand alle auf einmal freigelassen. Die kleine Stunde gestern Abend auf der Terrasse haben die Biester genutzt, um mir die Beine knapp oberhalb der Knöchel grün und blau zu stechen.

Also Rucksack auf und weiter. Durch Markocin, ein kleines Nest mitten im Wald. Mit vielleicht 10 Häusern, ein paar Wochenendhäuschen, mit der Außenwelt verbunden durch sandige Waldwege. Die Hitze flimmert über den Wiesen, die Dorfhunde kläffen müde, und die große weite Welt da draußen ist ganz weit weg. Vielleicht will ich mit 60 in so einem Kaff am Ende der Welt leben, glücklich auf meinem Rasentraktor. Im Schuppen Brennholz, das du beim Förster gegen eine Flasche Schnaps eingetauscht hast. Und du überlegst dir jedesmal gut, ob du wirklich in den nächsten Ort fahren mußt. Aber was sollen die Träumereien -- der Alltag sieht wahrscheinlich anders aus. Ständig graben dir die Wildschweine den Garten um, dein Auto wird nie wieder nicht dreckig sein und - ja... - ordentliches Internet gibt es hier draußen sicherlich auch nicht. Ende der Träumereien. Ab in den Wald und weiter...

Irgendwann drehe ich mich mal aus Versehen um und nehme erst jetzt wahr, was sich da für ein Wetter hinter mir zusammenbraut. Ok, der Wetterbericht hatte für den Nachmittag Gewitter angesagt, aber meine ständige Hoffnung bei solchen Nachrichten ist ja, bis dahin schon ein festes Dach über dem Kopf zu haben.
Eine Stunde später ändert sich die Landschaft um mich herum komplett. Der Wald ist vorbei, es übernehmen wieder die eintönigen Felder. Ich laufe durch Straßendörfer, die ihre Randsteine schneeweiß gestrichen haben und deren Skleps keine Schilder brauchen, weil die Einheimischen sowieso wissen, wo der Laden ist. Hinter einer Kirche finde ich einen herrlich schattigen Platz unter einer Linde, lasse mich im Wind trocknen und ignoriere tapfer die Blicke der Dorfbewohner, die sich fragen, wer da auf ihrer Bank sitzt. Weniger ignorieren kann ich den Blick in Richtung Himmel, der sich immer mehr zuzieht.

Am Ortsausgang beginnt und stockt das Gespräch mit dem neugierigen Altbauern wie üblich innerhalb kurzer Zeit, die Niemcy-Estonia-Pantomime versteht er aber trotzdem. Sein Sohn repariert inzwischen an einem uralten Ostblock-LKW herum, ist aber zu schecht gelaunt, um sich dem Gespräch anzuschließen. Irgendwo weiter hinten dröhnt Autobahn, die von Danzig nach Łódź führt. Die erste Autobahn seit dem Berliner Ring, also seit - keine Ahnung - 400 oder 500 km? Ich müßte dringend mal ausrechnen, wieviele Kilometer ich schon gelaufen bin. Eines weiß ich: Morgen werde ich über die Weichsel gehen, die für mich ungefähr die Hälfte von Polen markiert. Auf diesen Moment freue ich mich schon seit Tagen.

Leider führt mich mein Weg unter der Autobahn durch statt oben drüber; wie gerne hätte ich mich wie früher als Kind auf die Autobahnbrücke gestellt und den LKW zugewunken. Statt dessen gibt es nur wenig später die ersten Regentropfen auf den Kopf, als Vorboten des restlichen Nachmittags. Ich stecke die gute detaillierte Wanderkarte weg, die mich die letzten 5 Tage durch die Tucheler Heide geleitet hat und hole lustlos das nächste grobe 1:100.000er-Blatt des polnischen topographischen Institutes heraus. Ich ahne schon wieder, was das heißt: Keine kleinen Schleichwege mehr (weil sie nicht eingezeichnet sind), statt dessen stumpfes Asphaltwandern.

Für die nächste Stunde sieht das auch genau so aus, bis ich im Dorf Szarzewo irgendwie nicht aufpasse und falsch abbiege. Ich lande in einer Sackgasse, um mich herum 180°-Panorama von noch grünen Getreidefeldern - und kein anderer Weg in Sicht. Umdrehen und zurücklaufen kommt nicht in Frage, also kämpfe ich mich hoch auf den Bahndamm der alten aufgelassenen Eisenbahnstrecke. Eigentlich muß ich mich nur bis zur nächsten Brücke durchschlagen, dann rechts abbiegen. Eigentlich. In der Realität ist die Strecke wohl seit mindestens 10 Jahren nicht mehr in Betrieb und - abgesehen von den hier abgebildeten ersten paar Hundert Metern - komplett überwuchert. Also kämpfe ich mich durchs Unterholz und denke jedesmal, wenn mir wieder eine Mücke ins Ohr fliegt oder mir ein Ast ins Gesicht peitscht: Umdrehen wäre einfacher gewesen. Aber der Stolz war wieder stärker.

Irgendwann ist auch die Bahnbrücke erreicht, ich werfe den Rucksack ab, setze mich auf die Steinkante und lasse die Füße baumeln. Dabei fällt mir auf, daß ich heute wider Erwarten trocken geblieben bin. Immerhin sehe ich am Himmel, daß es weiter im Westen, wo ich noch vor 1 bis 2 Stunden war, gerade einen fetten Gewitterguß gibt. Offensichtlich habe ich mich irgendwie zwischen den Wolken durchgemogelt.

Die letzten Kilometer bis zu meinem Gasthof sind der Horror: Entlang der dicht befahrenen Landesstraße 91, andere Wege führen da nicht hin. Also quetsche ich mich soweit nach links, wie es geht, versuche Blickkontakt zu den LKW-Fahrern aufzunehmen, um sicher zu sein, daß sie mich wahrgenommen haben. Insgesamt fühlt sich das an wie ein Kaninchen auf der Autobahn, aber nach einer halben Stunde ist der Spuk vorbei.
Die Ankunft an meinem Landstraßenhotel erinnert mich zunächst sehr an Frankreich: Ein Gasthof direkt neben der Fernverkehrsstraße. Erst sitzt du nett nach hinten raus auf der Terrasse und guckst auf den See, dann gehst du auf dein Zimmer, das nach vorne raus liegt, und hörst beim Einschlafen den LKW zu. Aber der Laden hier ist nett und gibt sich Mühe. Die Mädels hinter dem Tresen kichern und knuffen sich mit dem Ellenbogen in die Seite, als ich mein Sprüchlein mit "dzień dobry" und "pokoj" aufsage - aaah, das ist der seltsame Typ, mit dem sie vor ein paar Tagen Englisch am Telefon sprechen musste. Immerhin: Die Dame hat sich sehr wacker geschlagen und wir haben uns quasi Wort für Wort vorgearbeitet. Soviel Geduld mußt du in der Gastronomie erstmal haben, wenn um dich herum das Tagesgeschäft brummt. Und auch heute brummt es, und ich gönne es dem Zajazd Gniewko: Die Terrasse ist voll, das Essen lecker, das Zimmer frisch renoviert. Wenn ich wollte, könnte ich noch in den Streichelzoo nebenan gehen. Aber ich trinke lieber mein letztes Bier aus, betrachte den Sonnenuntergang und freue mich über die Kühle des Abends, die für ein paar Stunden wieder die Oberhand haben wird.

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