Freitag, 20. Mai 2016

Tag 27: Zu Besuch in der Großstadt.

Tag 27/32: Sonntag, 15.05.2016
Biesal (Bahnhof) nach Olsztyn
6,5 h / 27 km

Es wird wirklich Zeit, daß ich aus Iława wegkomme. Meine Unterkunft der letzten vier Nächte geht mir langsam auf den Geist, den Weg zum Bahnhof bin ich auch schon viel zu oft gelaufen und dieses verweichlichte Wandern ohne viel Gepäck sollte auch schleunigst ein Ende haben.


Den letzten Punkt habe ich heute unfreiwillig übererfüllt. Gestern wollte ich eigentlich ein Paket mit abgewanderten Wanderkarten und anderen Dingen, die ich vorläufig für nutzlos erklärt habe, zurück in die Heimat schicken. Geschätzte 2,5 bis 3 kg Kram. Leider habe ich übersehen, daß in Polen offensichtlich am Samstag die Postfilialien geschlossen haben, daher sitze ich jetzt das ganze Pfingstwochenende auf meinem fertig gepackten Paket und werde es nicht los. Heute morgen habe ich es mir dann - zusätzlich zu meinem gesamten regulären Gepäck - oben auf den Rucksack geschnallt, um es vielleicht in Olsztyn zur Post bringen zu können. Mein Rucksack ist also heute ein absurd hoher Turm, der mich nochmal um eine Kopfhöhe überragt. Als ich auf dem Weg zum Bahnhof in einer Schaufensterscheibe mein Spiegelbild erahne, mag ich gar nicht richtig hingucken...

Auf dem Feld hinter Biesal ist es kalt und windig, auch wenn es optisch gar nicht danach aussieht. Die Temperaturen sind auf ca. 10° gefallen. Es ist zwar trocken, zumindest vorerst, aber wahrscheinlich nur deswegen, weil die Wind die deutlich drohenden Wolkenbänke viel zu schnell weitertreibt. Immerhin: Etwas Sonne! Macht doch gleich viel einen viel freundlicheren Eindruck als all die Stunden Regen gestern. Der Wind zaust die Pflanzen auf den Feldern, der Waldrand rauscht und biegt sich. Ich ziehe den Reißverschluß meiner Jacke ganz zu, stecke die Hände in die Taschen und halte die Nase in den Wind.

Im Wald kommt mir ein auf einem Rumpelpfad ein Auto mit einem Renterehepaar entgegen und weil ich ein Guter bin, räume ich mal eben die beiden vor mir liegenden armdicken Äste vom Weg, die letzte Nacht im Sturm gefällt wurden. Omi und Opi freuen sich und winken freundlich, ich grinse - und der Vormittag ist gerettet. Für mich, weil meine gute Tat für heute abgehakt ist; für die beiden, weil sie nicht anhalten und aussteigen müssen.  
Kurz darauf biege ich nach rechts auf die Forststraße ab, auf der ich die nächsten 2 h einfach nur noch geradeaus laufen muß. Radfahrer gibt es dort übrigens in Hülle und Fülle. Beim Ersten erschrecke ich mich noch, aber das legt sich schnell.

An der Landesstraße 16 gerate ich schon wieder in die nächste Baustelle. Durch den Wald planierte Sandmagristralen, halbfertig. Wenigstens ist heute Sonntag und daher keine Bauarbeiter zu sehen, die mich anmaulen könnten, als ich versuche, das Tor im Zaun aufzufrickeln, um wieder aus dem abgesperrten Baustellenbereich heraus zu kommen. Passenderweise beginnt auch gleich der nächste Schauer, so daß ich erstmal die komplette Regenmontur anlege und mich dann todesmutig in den Gegenverkehr auf der 16 stürze. 

Ein bißchen sieht die Schnellstraße danach aus, als wäre sie eigentlich für Fußgänger gesperrt, aber jetzt isses zu spät. Links und rechts der Straße stehen Wildzäune, also bleibt sowieso nur die Flucht nach vorne. Nur noch 1 km bis zu Abzweigung. Kurz davor eine Bushaltestelle, bei der ein offizieller Fußweg neben der Straße in Richtung des nächsten Dorfes beginnt. Und wie das Glück so will, habe ich gerade die ersten 10 m des Fußweges betreten, als ein Polizeiauto mit zwei sehr interessiert guckenden Beamten aufreizend langsam an mir vorbeifährt und sich die Kontrolle dann doch spart, weil dieses Bündel aus turmhohem Rucksack und knallroter Plastikhülle obendrüber ja auf einem regulären Fußweg unterwegs ist. Eigentlich ein bißchen schade, denn ein schickes Kontrollfoto mit der örtlichen Policja fehlt mir noch.

Aber jetzt wird alles gut. Die Sonne kommt wieder raus, es gibt einen schönen Räuberweg direkt am Seeufer entlang, mit Abenteuerflair und Rumpelabschnitten. Ich finde viele schöne theoretische Plätze zum Zelten, aber die Nähe zur Großstadt macht sich bemerkbar. Zurückgelassener Müll von einer lustigen Nacht am See markiert zuverlässig jeden einigermaßen netten Ort am Wasser.

Eine Stunde später an der frisch aus dem Boden gestampften Marina von Olsztyn breche ich aus dem Wald und treffe wieder auf Zivilisation, Spaziergänger, Menschen mit Hunden und Kindern. Außerdem ist ein alter Freund, der Wind, wieder da. Also mal lieber eben die Jacke anzie -- scheiße! Meine Kamera ist weg!
Mir entfährt ein lautes "Fuck!" statt des landesüblichen "Kurwa!", ich taste nochmal schnell alle möglichen Taschen ab, in denen die Kamera unüblicherweise gelandet sein könnte, aber dann weiß ich plötzlich genau, wo ich sie verloren haben muß. Vor einer halben Stunde habe ich auf dem kleinen Rumpelweg meinen Rucksack abgesetzt, um einen Zweig, der sich auf meinem Rücken unter das Hemd gemogelt hatte, wieder raus zu operieren. Die Kameratasche ist am Bauchgut des Rucksacks festgemacht und in den letzten Tagen schon mehrfach von alleine aufgegangen, wenn ich beim Absetzen des Rucksacks zu schwungvoll war. Shitshitshit. Also wieder marschmarsch und Vollgas den selben Weg zurück, bevor irgendjemand die Kamera findet. Sind ja wahrhaftig genug Leute unterwegs heute...

(Das letzte Foto, bevor...)
Zehn Minuten später überholt mich - vrooom! - ein Mountainbikefahrer. Ich will ihm schon zurufen, daß er weiter vorne vorsichtig sein soll, damit er meine verlorere Kamera nicht plattfährt. Dann schießt mir durch den Kopf, daß er durch diese Information vielleicht auch erst auf die Kamera aufmerksam werden könnte und sich damit möglicherweise aus dem Staub machen würde. Während ich noch abwäge, welches Risiko mir größer erscheint, ist er auch schon wieder außer Rufweite. Hrmpf, so kann man auch Entscheidungen treffen... Ich keuche also mit Karacho den Weg wieder zurück und scanne dabei. Links, rechts. Nix. Nix. Nix. Links, rechts. Hier müßte es gewesen sein. Nix. Da hinten auch nicht. Dann stehe ich an einem Punkt, an den ich mich ganz genau erinnere, weil ich hier zuletzt die Kamera für ein Foto vom See in der Hand hatte. So, ab hier jetzt nochmal in Ruhe rückwärts. Und zack, 10 Meter weiter liegt das gute Stück neben dem Weg in der Flora. Yeah! Eine Stunde Weg umsonst hingelegt, dafür keine 200 EUR-Kamera abgeschrieben.


Olsztyn ist dann doch ein mittelgroßer Kulturschock für mich. 170.000 Einwohner. Großstadtflair, Menschen auf Skateboards, ein Auto mit Berliner Kennzeichen, Straßenbahnen. Keine Skleps weit und breit, dafür Optiker und Notare. Mein Hotel ist von außen ein grottenhäßlicher Betonkasten aus den 80er Jahren, von innen allerdings sehr nett. Für 41 EUR die Nacht gibt's hier internationalen Standard und - dieser Moment wird mir noch lange heiß im Herzen brennen - als ich beim Check-In nach einem Zimmer mit Badewanne frage, zwinkert mir der Rezeptionsdrachen unerwartet freundlich zu und nickt verschwörerisch. Die Frage, ob ich einen Parkplatz in der Hotelgarage benötige, verneine ich höflich und schmunzelnd. Statt dessen sinke ich nach diesem kalten und windigen Tag mit einem Seufzer des Glücks in eine dampfende Badewanne und lasse mich gefühlte Ewigkeiten im heißen Wasser gar kochen. So lange, bis meine Zehen aussehen wie kleine leuchtend rote Eisberge, die ein wenig aus dem Wasser herauslugen.

Oh Badewanne, du Krone der Zivilisation!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen