Mittwoch, 27. April 2016

Wandertag. Mit neuen Stiefeln.

Was macht man mit neuen Wanderstiefeln? Richtig: Einlaufen. 

Und so kommt es, daß ich heute seltsamerweise zum Wandern nach Brandenburg fahre, obwohl ich gerade meine Wandertour unterbrochen habe, um meinen Füßen ein paar Tage Ruhe zu verschaffen. 

Aber wohin? Da muß ich nicht lange nachdenken. Vor einigen Tagen habe ich in der Märkischen Schweiz das Stobbertal links lassen, weil ich keinen Umweg laufen wollte. Und das, obwohl es schon auf der Wanderkarte sehr verführerisch aussah. Also auf in die Märkische Schweiz und das Stobbertal ablaufen. Der Himmel ist von dieser Idee nicht so begeistert, noch auf der Autobahn gibt es den ersten heftigen Regenguß, was andererseits als gute Vorbereitung für den restlichen Nachmittag durchgeht.

Und so laufe ich im Regen los, vorbei an der Pritzhagener Mühle, rein in die Landschaft aus Sumpf und Wald. Mir fallen fast die Augen raus bei all dem explodierenden Grün um mich herum. Noch vor ein paar Tagen habe ich in Polen vergleichbare Buchenwälder gesehen, die noch das graubraune Winterkleid anhatten: Laub vom letztem Jahr, die Stämme grau in grau, nur erste zaghafte Triebe. Hier in Brandenburg sieht es da schon viel eher nach Frühling aus... 


Ich laufe über Sandwege, durch Schafherden, sumpfigen Wald, sandigen Wald, Matschwege und andere schicke Sachen, die die Märkische Schweiz so bereit hält. Ich staune über gestern Abend, als ich im Laden einige Wanderstiefel anprobiert habe: Zuerst meine aktuellen Stiefel, in meiner normalen Größe. Ich bin nicht mal richtig reingekommen, nach 2 Sekunden war klar, daß das keine Alternative ist. (Jakob brachte die Frage auf den Punkt: "Kann man denn auch an den Füßen fett werden?" Offensichtlich ja...) Nun trage ich dasselbe Schuhmodell wie seit mehr als 10 Jahren am Fuß, nur eine Nummer größer als sonst. Und es läuft sich gut!

Nach zwei Stunden kommt die Sonne durch, ich setze mich auf eine einladend platzierte Bank. Stiefel ausziehen, Füße in die Sonne halten, zufrieden sein. Obwohl ich in den letzten zwei Stunden mit Absicht auf jeden Stein, jede schräge Oberfläche und jede Wurzel getreten bin (also genau die Dinge, die sonst immer schweinemäßig weh getan haben), ist bis auf eine kleine Druckstelle alles schick und vernünftig. Zur Belohnung hole ich die gute polnische Schokolade aus dem Rucksack, die erfrischend nach Sägespänen schmeckt und blinzele in die Sonne. So sieht Vorfreude aus...

Die Wolken da hinten sehen das ein wenig anders, also wieder Regenzeug übergeworfen und auf in Richtung Rückweg. Vorbei an unerwarteter Kunst im Wald, vor der ich mich im ersten Moment leicht erschrecken muß.
Später am Auto weiß ich: Das wird sicherlich in den ersten Tagen hier und da noch ein bißchen zwicken und zwacken, aber grundsätzlich fühlt sich das alles richtig an.

Abends kaufe ich mir im Internet mein Bahnticket zurück nach Polen. Die Deutsche Bahn möchte für die Fahrkarte nach Piła über doppelt so viel Kohle sehen als die PKP letzte Woche. Kommt überhaupt nicht in Frage, also flott nur ein Ticket bis zum ersten Umsteigebahnhof in Polen gekauft. Die restliche Strecke von Poznań nach Piła löse ich mir dann halt in Polen am Automaten, sie wird bei der PKP nur rund 20 PLN kosten, rund 5 EUR (statt ca. 25 EUR bei der Deutschen Bahn).

Fazit des Tages:




Dienstag, 26. April 2016

Vorläufiger taktischer Rückzug.


"Was zur Hölle soll DAS denn heißen?", mag sich der geneigte Leser gerade fragen. Und das zu Recht.

Nach meiner Notbremsung am Dienstag letzter Woche habe ich drei langweilige Nächte in einem sehr schönen Apartment in einer sehr öden Stadt verbracht. Der erste Morgen war dabei besonders lustig, weil ich mit meinem Sorgenkind "Fuß links" nur noch auf den Zehenspitzen gehen konnte. Die fette Wasserblase war über Nacht auf eine Mächtigkeit von ca. 3-4 cm inkl. Blasenpflaster angewachsen. Also saß ich da nun, im schönen Piła, und beschäftigte mich abwechselnd mit Fernsehen, Lesen im Park, Nachmittagsschläfchen und anderen zeittotschlagenden Aktivitäten. Außerdem durchkämmte ich die örtlichen Schuhhandelshäuser nach passenden Wanderstiefeln, leider ohne Erfolg.
So waren zwar die zwei Tage Rumbummeln in Piła zwar ganz entspannend, aber auch total unbefriedigend. 

Am Donnerstagabend dämmerte mir langsam, daß meine angepeilten 3 Tage Ruhepause nicht ausreichen würden, um mich wiederherzustellen. Also hätte ich meinen Aufenthalt in Piła noch weiter verlängern müssen, was eine nicht sehr attraktive Vorstellung war.

Wenn ich den Frust über die aktuelle Situation beiseite schiebe, mir die Vokabel "scheitern" verbiete und mich mal ganz objektiv frage, was jetzt als Nächstes wichtig ist, gibt es eigentlich nur 3 Punkte:
  1. Füße heilen lassen
  2. Neue Stiefel kaufen
  3. Weiterlaufen 
Meine Füße werden auch zuhause heilen (und ich muß dabei wenigstens nicht noch x Hotelübernachtungen in Piła bezahlen). Außerdem habe ich in Berlin die volle Auswahl an einschlägigen Fachgeschäften, in denen ich Wanderstiefel anprobieren kann, bis ich dumm und dusselig werde. 
 
Die vergangenen 2,5 Wochen habe ich immer wieder versucht zu ignorieren, daß mit der Kombination Füße/Stiefel irgendwas nicht stimmt und bin einfach weitergelaufen. Funktioniert hat das Verdrängen des Problems dabei überhaupt nicht. Im Gegenteil, es ist eigentlich immer schlimmer geworden. Jedesmal, wenn ich mich nach einem Pausentag wieder ein Stück besser gefühlt habe, hat genau 1 Tagesetappe ausgereicht, um die Lieblingsstellen an meinen Füßen wieder in heißes Fleisch zu verwandeln. 
 
Also den Stolz beseite geschoben und in den sauren Apfel gebissen. Die polnische Staatsbahn PKP verkauft mit eine Fahrkarte für knapp 19 EUR bis nach "Berlin AB". Aufmarsch zum vorläufigen taktischen Rückzug nach Hause.

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Als ich in meinem Bummelzug nach Kzyz Wielkopolski sitze, fühle ich mich im Wesentlichen ziemlich elend. Andererseits ist mir aber auch irgendwie klar, daß ich die richtige Entscheidung getroffen habe, auch wenn es sich in diesem Moment nicht danach anfühlt. 

Der Zug fährt ziemlich genau die Strecke entlang, die ich zu Fuß gekommen bin. An manchen Bahnübergängen weiß ich, daß ich genau hier vor einigen Tagen langegzuckelt bin. Und da hinten am Waldrand auch. Das Bähnchen bummelt von Milchkanne zu Milchkanne, zwischendurch sitze ich mit ca. 250 Schülern eine Stunde in einem Mini-Schienenbus zwischen Gorzów Wielkopolski und Kostrzyn fest, verpasse meinen Anschlußzug und komme nach 6h Reise (für ca. 270km) endlich da an, wo Berlin den Reisenden am schönsten empfängt. Am Bahnhof Lichtenberg. Pan Lombragschinski holt mich vom Bahnhof ab, wir fahren nach Pankow und essen ein Berliner Tellergericht, garniert mit vielen Frust-Bieren.

Aber immerhin: Urlaub vom Urlaub ist auch Urlaub.

Sonntag, 24. April 2016

Tag 12: Notbremse

Tag 12/14: 19.04.2016
Trzcianka nach Piła
...

Am nächsten Morgen wird mir immer klarer, daß ich ein Problem habe. Nach dem Aufstehen sehe ich, daß die große Wasserblase am linken Fuß über Nacht noch gewachsen ist, vielleicht ist auch das Blasenpflaster Schuld, das ja mit Magic irgendwie eine zusätzliche Polsterung aufbaut. In meine Freizeitschuhe passe ich noch irgendwie, um zum Frühstück zu tapsen, aber als später die Stiefel anziehe...
Trotzdem gehe ich los. Kühl, sonnig, windig. Die klassische Morgenkombination. Ich fühle mich statt dessen wie im Fieberwahn, weil ich eigentlich nur krampfhaft versuche, möglichst schonend zu gehen. So langsam kommt Verzweiflung in mir auf. Ich trage dieselben Stiefel und dieselben Wandersocken wie bei meiner letzten langen Tour vor 4 Jahren. Sicher, während der erste Tage hat's auch damals manchmal gedrückt und gezwackt, aber so ein lang anhaltendes Fußdesaster wie in den letzten Tagen habe ich noch nie erlebt.

Nach guten 1,5h setze ich mich am Waldrand in die Sonne, esse zwei Kiwis und überlege, was hier eigentlich los ist. Meine Füße sind im Eimer - ok, daß ist unangenehm und irgendwie nachvollziehbar. Schlimmer ist, daß offensichtlich immer wieder dieselben Stellen betroffen sind, obwohl ich jeden Tag pflege, polstere und pflastere. Jedesmal, wenn eine Blase gerade auf dem Weg der Besserung ist (z.B. nach einem Pausentag), laufe ich mir ein neues Exemplar obendrauf und der Horror beginnt von Neuem.

Woran es liegt? Ich kann nur mutmaßen. Vielleicht ist der deutlich schwerere Rucksack (zusammen mit dessen Träger, der in den letzten Jahren auch nicht leichter geworden ist) daran Schuld, daß meine Füße eigentlich mehr Platz bräuchten als früher. Denn tatsächlich fühlen sich meine Stiefel inzwischen eher zu eng als zu weit an.

Aber die Frage nach der Anpassung der Stiefelsituation ist eigentlich der zweite vor dem ersten Schritt. Viel wichtiger ist es, meinen Füßen ein paar Tage Zeit zum Heilen zu geben. Also entschließe ich mich, in den Schummelmodus einzutauchen und den Rest der Tagesetappe mit dem Zug abzukürzen. Piła ist immerhin eine etwas größere Stadt, dort werde ich ein paar Tage Auszeit nehmen. Und vielleicht bekomme ich dort meine Stiefel eine Nummer größer. (Obwohl: Ich kaufe mir seit Jahren dieselben Stiefel immer wieder 1:1 neu, weil ich einfach so zufrieden mit ihnen bin...)

Also biege ich ab zur Bahnstrecke, die ca. 2km östlich von mir verläuft. Das Schicksal schenkt mir nochmal eine schöne intensive Gelegenheit, über meine Entscheidung nachzudenken, indem mir der Zug vor der Nase wegfährt. Verbittert mache ich noch schnell ein Foto, so als kleine Erinnerung. Immerhin, ein schöner ehrlicher Bummelzug mit einer fetten Diesellok vornedran und genau einem Wagon dahinter. Der nächste Zug geht in ca. 2,5h. Na, vielen Dank. Der Bahnhof Biała Pilski hat außer zwei Metallbänken und einer Infotafel nix, woran sich der Reisende erfreuen könnte. Also stelle ich mich statt dessen an die Landesstraße 180, die parallel zur Bahnstrecke ebenfalls nach Piła führt. Daß man hier zum Trampen nicht den Daumen raushält, sondern die flache Hand bei nach unten abgewinkeltem Arm, hab ich schon mal irgendwo gelesen.

Trotzdem stehe ich eine Ewigkeit an der Straße, und keine Sau hält an. Ob es an der Scheiß-Stelle (eigentlich kein guter Platz zum Anhalten, aber ich wollte mir die Option des Bahnhofs nicht verbauen), meinem Riesen-Rucksack oder generellem Unwillen lag, vermag ich leider nicht zu rekonstruieren. Nach knapp 2h an der Straße habe ich die Schnauze voll, latsche wieder rüber zum Bahnhof, setze mich auf die Metallbank in den Wind. Während ich schon deutlich friere, gibt es ein paar Regentropfen, um die Szenerie endgültig in die Trostlosigkeit zu ziehen.

Als irgendwann der Scheiß-Zug endlich da ist, bin ich einfach nur froh, endlich aus dem Wind zu sein. Eine Viertelstunde später steige ich in Piła aus dem Zug, laufe durch eine mittlere Stadt, die noch deutliche Züge der sozialistischen Städteplanung trägt. Dank Handy und Internet habe ich mir für 3 Nächte ein schickes Apartment zum gleichen Preis gebucht, den ich auch für das abgeranzte Sowjet-Hotel am Ort bezahlt hätte. Alles klappt super, trotz nur einer Stunde Vorwarnzeit trifft sich die Vermieterin pünktlich mit mir vor der Haustür.

Rausgehen und Einkaufen kriege ich nicht mehr hin, nachdem ich erst einmal die Schuhe ausgezogen habe und so verbringe ich den Abend bei Leitungswasser, Schokoriegeln und fiesen Gedanken in einem "Studio-Apartment", das so aussieht, als hätte sich das Büro Rehahn beim Bau einer Loftwohnung für eine Fernsehserie ausgetobt. Unten im Haus gibt's ein Beauty-Institut inkl. Botox-Behandlung -- was für eine andere Welt. 

Auf der einen Seite ärgere ich mich, daß ich mich gezwungen fühle, wieder in diese Welt einzutauchen. Auf der anderen Seite weiß ich, daß es die richtige Entscheidung ist. Der Zustand meiner Füße ist offensichtlich ein Problem, das sich nicht von alleine löst, nur weil ich es ignorere (auch wenn ich das in meinem jugendlichen Leichtsinn gerne so gehabt hätte). Hier in der Stadt habe ich wenigstens alle Möglichkeiten, um das Problem zu lösen: Übernachtungsmöglichkeiten, Sportgeschäfte, Schuhläden.

Die nächsten Tage werden zeigen, welche Lösung ich finden werde. Das heißt leider auch, daß es jetzt für ca. 3 Tage auf dieser Seite sehr ruhig werden wird. Aber ich glaube, ich spreche sowieso schon genug über meine Füße. Auf ein tägliches Update mit Fotos kann die überwältigende Mehrheit des Internet sicherlich verzichten.

I'll be back.


Samstag, 23. April 2016

Tag 11: Rucke di guh, rucke di guh...

Tag 11/13: 18.04.2016
Załom nach Trzcianka
7,5 h / 32 km

Auch der nächste Morgen ist eine wahre Augenweide. Kühl, sonnig, klar. Der Tag beginnt mit 4km auf der Straße bis nach Człopa, dem nächstgrößeren Ort. Bis dahin trage ich brav das Paket mit den ausgedienten Wanderkarten in der Hand, das ich auf der Post nach Hause schicken will. Sieht irgendwie doof aus, aber im Rucksack war nicht wirklich Platz.

Kurz vor Człopa kommt mir ein alter Mann auf einem Klapprad entgegen, um das sich in Berlin wahrscheinlich die Hipster prügeln würden. Von seiner Gesprächslawine verstehe ich Null, aber der große Rucksack scheint ihn zu beeindrucken. Also versuche ich zu erklären: "Niemcy, Berlin, Człopa, Piła, Polska, Litwa, Łotwa, Estonia" und mache dazu mit den Fingern das gehende Männchen. Er ist entsetzt und macht mit dem Finger eine Geste, als würde er sich ein Messer an den Hals halten. Ist das die gut gemeinte Warnung, daß sie mir ihm Osten bestimmt die Kehle durchschneiden werden? Keine Ahnung. Auf jedem Fall verabschieden wir uns mit festem Blick, rechter Hand auf dem Herz und drauffolgendem Handschlag und jeder zieht weiter seiner Wege. Und ich bin plötzlich stolz wie Bolle.

Die Post in Człopa ist in einem herrlich sowjetischen Zweckbau mit vergitterten Fenstern untergebracht, drinnen sitzt nur eine gelangweilte Dame am Tresen und - null - Dorfbewohner, die gerne irgendwelche Rechnungen zahlen wollen. Ich gebe mein Paket auf und schlage mich an ein paar Einfamilienhäusern vorbei in den Wald. Sandwege, Sandwege, Sandwege.

Heute morgen war ich schon um 08:45 auf der Straße, im Bewußtsein, daß dies ein langer Tag werden wird. Entsprechend früh habe ich Lust auf eine Mittagsrast, für die ich einen perfekten Platz in der Sonne finde: Am See, auf einem Steg. Unten im glasklaren Wasser sehe ich Fische, Teichmuscheln und Wasserpflanzen. Meine Wirtin hat mir zum Abschied noch Stullen und einen Apfel als Wegzehrung in die Hand gedrückt, die ich jetzt gegen die allgegenwärtigen Ameisen verteidige. Zum ersten Mal fühlt sich die Sonne fast nach Sonnenbrand an und eigentlich will ich kaum wieder aufstehen. Aber vor mir liegen heute noch viele Kilometer Weg durch den Wald.

Hinter dem nächsten Dorf (Jaglice) suche ich ein bißchen nach dem richtigen Weg aus den zahlreichen Sandpisten durch den Wald. Vor mir liegt ein großes zusammenhängendes Waldgebiet, Teil der Puszcza Drawska. Und außer ein paar Holzfällern mit einem uralten Traktor, die irgendwo da hinten zwischen den Bäumen Holz schlagen, sehe ich in den nächsten Stunden keine Menschenseele. Statt dessen sitze ich am frühen Nachmittag auf einem in der Sonne duftenden Holzstapel, genieße die Wärme und schaue den Hummeln dabei zu, wie sie die Farben meiner Wanderkarte höchst interessant finden. Ich entledige mich der Wanderstiefel, die Füße schmerzen hart vom Laufen auf den Sandwegen, weil sie im weichen Untergrund ständig stabilisieren müssen.


Eine Stunde bevor ich auf der anderen Seite des Walder wieder auf freies Feld treffe, stolpere ich wieder über einen der uralten Steinpfeiler. An einer Weggabelung wachsen mittig einige Buchen, dazwischen der mindestens 70 Jahre alte Wegweiser, der noch den alten deutschen Namen von Jaglice zeigt: Jagolitz.

Am See beginnt sich die Landschaft langsam wieder mit Häusern zu füllen. Neubauten, Ferienlager, Kirche. Dazwischen ein Sklep, den ich unverständlicherweise links liegen lasse. Eigentlich hätte ich schwer Bock auf ein Getränk gehabt, aber irgendetwas in mir redet mit ein, daß ich ja sowieso bald am Ziel bin. Was objektiv gesehen ziemlicher Quatsch ist. Der Weg führt mich sicher noch mindestens 1,5h an verschiedenen Seen entlang bis zu meinem Ziel.

Der Trampelpfad am See entlang ist optisch recht ansprechend, bringt mich aber den Rand der Verzweiflung. Jede Wurzel und jeder Stein, auf den ich trete, sticht in den Füßen. Jedes Stück Weg, bei dem ich irgendein Gefälle ausgleichen muß, zwingt mich danach zu einer Minute Pause, um den Schmerz weg zu atmen. Wäre ich doch verdammt nochmal einfach auf der Straße geblieben, da ist wenigstens alles eben wie ein Brett.

Die letzte Stunde bis zum Hotel ist dann auch eher absurd. Ich keuche und ächze und stöhne den Sandweg neben dem See entlang, überquere ein noch eingewintertes Strandbad, vorbei an den Riesen-Plastiken von einheimischen Fischen, die die lokale Tourismus-Initiative offenbar zu einem Fischwanderweg ausgebaut hat. Ich fotografiere einige der Biester, verliere aber schnellstens auch wieder die Lust dazu.

Mein Hotel entpuppt sich als eine Art Sportlerheim zwischen Fußballplatz und Tennishalle. Atmosphäre und Abendessen sind entsprechend, aber der eigentlich schlimme Teil des Abends findet im schummerigen Bad meines kleinen Einzelzimmers statt: Die Begutachtung der Blasen. Durch die lange Etappe heute habe ich mir am linken Fuß eine daumendicke Blase gelaufen, an einer Stelle, wo eine alte Blase gerade am Abheilen war. Noch schlimmer steht es um den rechten Fuß: An der Ferse prangt eine neue Blutblase. So ein Ding habe ich bisher noch nie gehabt. Was für ein Schlag für die Motivation...

Mehr als ein Kotlett verdrücken und im Bett rumliegen bringe ich heute Abend nicht fertig. Meine Vorfreude auf morgen hält sich in Grenzen. Irgendwas läuft hier schief. Irgendwas muß passieren. So kann es nicht weitergehen. So will ICH nicht weitergehen.

Freitag, 22. April 2016

Pausentagsgeschichten

Was ist das schönste Geschenk an einem Pausentag? Morgens aufwachen und draußen regnet's wie Sau. Entsprechend kalt ist es auch. Also freue ich mich über das Frühstück und die Tatsache, daß ich mich statt raus in den Regen einfach entspannt aufs Sofa begebe, um die neuen Wanderkarten für die nächsten Wochen zu studieren.

Nachmittags klart die Suppe draußen auf und es wird ein wunderschöner sonniger Abend. Als ich nochmal rausgehe, um ein paar Fotos von dem Anwesen meiner Gastgeber zu machen, bewege ich mich auf dem groben Kopfsteinpflaster, als hätte ich Stöckelschuhe an. Wackelig, jeder Schritt ein Tritt ins Ungewisse und potentiell schmerzhaft. Meine Füße erholen sich zwar über Nacht immer wieder deutlich, aber so richtig in Ordnung ist das trotzdem alles nicht.

Ich gucke ja jetzt den lieben langen Tag PoloTV und warte auf meinen nächsten Ohrwurm. Inzwischen ist mir klargeworden, daß der grandiose Griff in die 90er-Jahre-Kiste, den ich vor ein paar Tagen erleben durfte, durchaus kein Ausrutscher war. Es gibt bei PoloTV eine eigene Sendung am Vorabend mit den alten Krachern. Da ist viel Schräges dabei, heute allerdings nichts Berichtenswertes.

Statt dessen staune ich über diese Frühstücksflockenwerbung:
https://youtu.be/BN1bc79mkK4 

Haben die zwei Jungs da mehrere reguläre Paare bei der Maklerbesichtigung für die neue gemeinsame Wohnung aus dem Rennen geschlagen? Uwaga, Polska! So beginnt die homosexuelle Unterwanderung...

Donnerstag, 21. April 2016

Tag 10: Huch! Tourismus!

Tag 10/11: 16.04.2016
Zeltplatz Rokitno (Jez. Rakowe) nach Załom
6,5 h / 24 km

Ich wache nach einer ruhigen Nacht früh auf, die Welt außerhalb meines Zeltes ist patschnaß, über dem See liegt leichter Nebel und es ist empfindlich kalt. Viel zu lange habe ich gestern Nacht noch nach Wildschweinen gehorcht, aber das werde ich mir hoffentlich auch bald noch abgewöhnen. Geschlafen habe ich am Ende eigentlich ganz gut, aber gefühlt zu wenig, so daß ich mich sofort dazu entschließe, mich nochmal in den Schlafsack zu werfen. Schließlich will man ja auch dem Zelt eine Chance geben, trocken zu werden, bevor man es einpackt. Während ich so in den Vormittag hinein döse, muß ich lange überlegen wieviele Jahre ich eigentlich nicht mehr richtig im Wald geschlafen habe. Wahrscheinlich vor rund 15 Jahren, bei einer meiner Touren in Norwegen.

Insgesamt merke ich nach meiner ersten Nacht im Zelt, daß es gerne noch ein wenig mehr Sommer werden könnte. Mehr Wärme am Morgen und vor allem mehr Licht am Abend tragen doch erheblich dazu bei, daß eine Übernachtung im Zelt den nötigen Entspannungsfaktor nach einer Wanderetappe hat. Außerdem im Angebot der Erkenntnisse: Zelten = Chaos. Wenn ich in irgendwelchen Landstraßenhotels ankomme, ist meine Choreographie inzwischen vollkommen eingespielt. Der Rucksack explodiert, die immer gleichen Plastiktüten mit dem immer gleichen Inhalt landen immer an vergleichbaren Orten und ich weiß, wo ich suchen muß. Gestern Abend habe ich gefühlt 90% der Zeit damit verbracht, nach meinem Buch oder dem Taschenmesser zu kramen, weil sie im Zelt von irgendwelchen Klamotten, Tüten oder der Isomatte vergraben waren. Gleichzeitig war der Abend nach Ankommen/Waschen/Zelt aufbauen/Habseligkeiten sortieren/Abendbrot derartig schnell vorbei, daß ich unmöglich noch mein Schreibpensum geschafft hätte. Also: Nachsitzen...

Trotzdem bin ich heilfroh, die erste Nacht auf dieser Reise gezeltet zu haben. Endlich trage ich die 5kg Zelt/Isomatte/Schlafsack nicht mehr sinnlos mit mir herum, sondern aus gutem Grund. Und ich habe mich gestern intensiv über die neu gefühlte Freiheit gefreut, keine Verpflichtungen zu haben und mich jederzeit überall niederlassen zu können, wo es mir gerade gefällt. Zelten ist in gewisser Weise anstrengend, aber auch richtig schön. Am Ende wird die richtige Mischung das Maximum an Reisespaß ausmachen.

Die Wanderkarte verheißt heute Gutes: Zahlreiche markierte Wege, zahlreiche Symbole mit touristischen Besonderheiten. Der Drawieński Park Narodowy ist Paddelrevier, Naherholungsgebiet und insgesamt erstaunlich schick anzusehen. Es gibt Wanderwege durch raschelndes Laub, hoch über der Drawa, die im Sommer sicherlich massiv bepaddelt wird. Oben am Steilhang finden sich die Reste der Ringwallanlage "Szwedzkie Szańce", was sich nach 1x laut Vorlesen sicherlich mit "Schwedenschanze" übersetzen lässt. Ich kraxele ein bißchen durchs Unterholz und baue in meiner kindlichen Baumeisterfantasie die Befestigungsanlagen neu auf. 

Knapp zwei Stunden später nutze ich dankbar die Picknickbank unten am See, Schuhe aus, Füße ausstrecken. Von der Vormittagssonne ist inzwischen kein Zipfelchen mehr zu sehen, das Einheitsgrau der Nachmittagswolken hat schon wieder alles verschluckt. Eigentlich sieht es schon fast wieder ein bißchen nach Herbst aus. Ein kurzer Schauer kündigt sich an -- und Auftritt: Drei junge Wanderer in vollem Ornat, mit großem Rucksack und Isomatte obendrauf. Ich bin so verdattert, daß ich gerade noch schnell mein "Dzień dobry!" rauskriege, bevor sie auch schon wieder um die nächste Ecke verschwunden sind. Ok, Naherholungsgebiet + Wochenende =offensichtlich Campingtrip.

Fünf Minuten später die nächsten Zwei, die aber wohl nur schnell wegen des Wetters zum Auto zurückhuschen. Der schöne Dreiklang "Regentropfen - Autotür - Abfahrt" bringt mich gehörig zum Schmunzeln.

Als ich den See gerade umrundet habe, höre ich um ersten Mal Donner von schräg hinten. Ach du Scheiße: Gewitter? Hier? Jetzt? Die nächsten paar Donnerschläge ignoriere ich offensiv und freue mich statt dessen über die Siedlung Ostrowite im Wald. Eine uralte Baumallee, zwei alte Häuser. Eines wurde frisch renoviert und wirkt wie ein leer stehendes Seminarhaus, das alte Forsthaus daneben ist vernagelt und verfällt in stiller Melancholie. Gegenüber stehen zwei neuere Häuser, die sich aber schön in das Ensemble auf dieser winzigen Lichtung im Wald einfügen, aus den Schornsteinen kommt der heimelige Geruch von einem Feuer im Kamin. Der Regen setzt ein, diesmal - zum ersten Mal auf dieser Reise - mit ernstem Nachdruck. Das fühlt sich nicht nach einem Schauer an, der in 3 Minuten wieder vorbei ist.

Vorne am Waldrand gibt's eine Infotafel mit kleinem Dach darüber, ich stelle mich unter und lege für mich die Regenjacke an und für meinen Rucksack die Regenhülle. Und dann stehe ich da wie bestellt und nicht abgeholt. Neben mir die Ruinen einer alten Kirche, daneben noch der alte Friedhof. Als ich die Kirchenmauern auf der Suche nach einem besseren Platz zum Unterstellen abchecke, sehe ich im Vorbeilaufen auf den alten Grabsteinen deutsche Namen wie Schmitz und Friedrich. Schon seit Tagen schwebt in meinem Hinterkopf, daß ich durch ehemalige Gebiete des Deutschen Reiches laufe. Pommern, Westpreußen, später Ostpreußen. Ich sehe es an den alten deutschen Ortsnamen, die mich in meiner Kartenapp immer wieder verwirren. An den vielen Straßennamen aus Friedrichshain und Prenzlauer Berg, deren Herkunft ich hier wiedererkenne. Krossener Straße. Küstriner Straße. Drossener Straße. Driesener Straße. An alten Wegsteinen mitten im Wald, die an der Kreuzung von zwei namenlosen Sandwegen die längst vergangene Richtung anzeigen. An Giebeln halbzerfallener Häuser, die noch die Reste von einer Werbeaufschrift tragen, die vor Generationen dort angebracht wurde.

Aber im Jetzt, im Hier? Geht mir der Regen näher als die Erinnerung an eine vergangene Zeit. Vom Rumstehen ist noch niemand angekommen, also ziehe ich hinaus in den Regen und ärgere mich, daß ich die letzten zwei Stunden bis zu meinem Ziel patschnaß werde. Einen Vorteil hat das Wetter allerdings: Es beschleunigt den Schritt ungemein. Und so pflüge und patsche ich wie ein D-Zug durch den nassen Wald, auf dessen Waldwegen sich bald tiefe Rinnsale und große Pfützen bilden.

Eine halbe Stunde später sehe ich zwei Wanderer in vollen Regenklamotten, die sich unter einem vergleichbaren Infotafel-Dächlein unterstellen wie ich eben. Einer hat gerade die Bierflasche angesetzt und ich seufze neidisch. Offensichtlich ist der trommelnde Regen aber laut genug, daß die beiden nicht mal mitbekommen, daß da gerade jemand an ihnen vorbeiläuft. 

Wenig später wird mir ganz blümerant: Eine Picknickbank mit Dach (die ich aus Dankbarkeit sofort fotografieren muß)! Ich setze mich glücklich für 20 Minuten ins Trockene, bis plötzlich mit einem Aufschrei des Unglaubens die drei wandernden Polen, die ich schon vorhin am See getroffen habe, an mir vorbeiziehen. Ob sie jetzt überrascht sind, ausgerechnet mich wieder zu treffen, ob sie nicht fassen können, schon wieder sich vor dem Regen unterstellende Memmen zu sehen oder ob sie sich ärgern, daß der einzige trockene Platz weit und breit besetzt ist, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Irgendwann wird mir langsam kalt und das Einzige, was dann hilft, ist: Weiterlaufen. 

Die letzte Stunde bis zu meiner heutigen Übernachtung ist nass und klamm. Trotzdem sind es schöne Kilometer - die anfängliche Abscheu darüber, patschnaß im Regen zu wandern, ist einer tiefen Entspannung gewichen. Wenn du erstmal naß bist, ist es irgendwann auch egal. Der Wald riecht nach Moos, aus den aufgestapelten Baumstämme am Wegesrand duftet das Harz und vor meinem geistigen Auge formt sich die Fata Morgana des Ankommens auf dem "Ułańska Zagroda", dem Ulanenhof, einem tollen Anwesen aus wuchtigen Holzhäusern am Waldrand. Wo der Rauch des Kaminfeuers aus dem Schornstein quillt, die heiße Dusche wartet und - noch mehr - die Aussicht auf den nächsten Pausentag, so daß genug Zeit sein wird, das nasse Zelt und alle nassen Klamotten zu trocknen.

Alle meine Träume werden wahr, nach der Dusche steht direkt das Abendessen auf dem Tisch. Meine Gastgeberin bietet mir an, nach dem Essen mit ins Dorf zum Einkaufen zu fahren, was perfekt passt. Otti hat mir ein Paket mit den Wanderkarten für die nächsten Wochen hierher geschickt und ich verbringe den Abend lesend auf einem großflächigen Sitzmöbel in einem toll hergerichteten Holzhaus und freue mich darauf, später in mein 140er-Bett zu versinken.

Es gibt nur wenige Dinge, die ich mir jetzt gerade noch wünschen wollte.

Mittwoch, 20. April 2016

Tag 9: Am See, im Regen.

Tag 9/10: 15.04.2016
Mierzęcin nach Zeltplatz Rokitno (Jez. Rakowe)
6 h / 21 km

Schnell raus aus dem Schloß. Auch wenn das Abendessen gestern saugut war -- hier passe ich nicht wirklich her. Und so fühlt sich der Rucksack auf meinem Rücken sehr familiär an, dazu gibt es einen sonnigen Morgen. Auf dem Feld sehe ich das erste Mal in diesem Frühling die Luft flimmern, aber das ist wahrscheinlich eher als eine Vorankündigung auf warmes Wetter später im Jahr zu werten. 

Mein Rucksack ist erschreckend leer für Camping am See -- übernachten könnte ich da freilich. Zelt, Isomatte und Schlafsack sind an Bord, aber was fehlt, ist Futter. Abendessen, vielleicht ein Bier, irgendwas für's Frühstück. Ich entscheide mich todesmutig gegen einen kilometerweiten Umweg über Dobiegniew, wo mit Sicherheit ein Supermarkt die volle Warenauswahl bereit hält und vertraue statt dessen darauf, daß ich schon noch an irgendeinem Sklep vorbeikommen werde, wo ich mir halt irgendwas zusammenkaufen kann. 

Übers Feld, über Hügel, über die 22. Das in den letzten Tagen immer wiederkehrende Rezept der Vormittage. Insgesamt habe ich heute so ca. 5 Dörfer auf meiner Route, durch die ersten beiden ziehe ich ohne Anzeichen irgendeiner Verkaufsstelle hindurch. Dabei hatte ich eigentlich meine Hoffnung auf Wołogoszcz gesetzt. Eigentlich ein verschlafenes Nest, aber neben der 22 gelegen und der Karte nach das größte der heute zu erwartenden Dörfer. Ich zögere kurz, ob mich nicht an die Hauptstraße stellen soll, um doch noch schnell für einen Einkaufstrip nach Dobiegniew zu trampen. Aber der Rebell in mir (und auch ein bißchen das schlechte Gewissen angesichts meiner königlichen Versorgung gestern Abend) wischt den Gedanken beiseite.


Am frühen Nachmittag zieht sich der Himmel wieder langsam zu, auch das gehört zur eingespielten Choreographie der vergangenen Tage. Im vorletzten Dorf finde ich mich fast schon damit ab, Abendessen und Frühstück mit Wasser und ein paar Schokoriegeln aus meinem eiserner Vorrat zu bestreiten. Aber dann: Das letzte Dorf für heute - Radęcin - meint es gut mit mir. Gleich zwei Skleps hintereinander bieten sich auf der Dorfstraße zur Shoppingvielfalt an. Ein bißchen fühle ich mich wie die bunte Kuh in der Oper, als ich mit meinem Mörder-Rucksack in den Dorfladen gehe und der Verkäuferin auf ihre mir unverständliche Frage mit "Przepraszam, but I don't speak polish..." antworte. Trotzdem verkauft mir die gute Frau im Laden gegenüber von der Kirche zwei Bier, Orangensaft, ne Flasche Cola, ein Stück Käse, etwas Brot und ein paar andere Kleinigkeiten. Und der Abend ist gerettet.

Nicht bedacht allerdings habe ich mal wieder, daß ich den ganzen Kram auch tragen muß. Vier Kilo, schätzungsweise? Am Waldrand packe ich meine Einkäufe von der Tüte in den Rucksack um, der plötzlich wieder höllisch schwer ist. Nur die Aussicht darauf, daß das morgen früh alles weg sein wird, verhindert einen sofortigen massiven Frustanfall. Und während ich in den Wald eintauche, merke ich die ersten zaghaften Regentropfen auf meinem Gesicht, die einen verregneten Abend ankündigen.

Eine Stunde später stehe ich an der Kopfsteinpflasterstraße hinter Wygon. Ein sehr schräger Moment, denn bis genau hierhin fühlte sich Westpolen als irgendwie bekanntes Terrain an. Überall schonmal durchgefahren, überall schonmal eine kleine Wanderung gemacht. Weiter als bis zu dieser Kopfsteinpflasterstraße war ich in Richtung Nordosten noch nicht. Denn genau hier stand ich vor ein paar Wochen schon einmal, als ich da drüben mein Auto geparkt habe. Nachdem ich damals auf meinen Wanderkarten gesehen hatte, daß tonnenweise Zeltplätze im Wald eingezeichnet sind, wollte ich mir ein Bild davon machen, was die Kollegen in Polen darunter wohl so verstehen -- und ich wurde positiv überrascht. Mein heutiges Ziel ist eine Wiese an einem langgezogenen See, eingebettet in tiefen Wald, das nächste Dorf ca. 3-4 km weit weg. 

Und ich habe diese Wiese für mich alleine. Trotz Freitagabend keine Angler, keine Camper, nur Wald und Vögel um mich herum. Ich baue mein Zelt auf und als ich gerade fertig bin, beginnt es zu regnen. Hastig werfe ich meinen Kram ins Zelt, brauche eine gefühlte Ewigkeit, bis ich in der Enge meinen Rucksack ausgepackt und sortiert habe, bis die Isomatte unten, der Schlafsack darüber und ich obendrauf sitze. Glücklich krabbele ich in meinen Schlafsack und döse erstmal eine Runde, begleitet vom leisen Trommeln des Regens auf die Zeltplane. Das ist - mit Verlaub - der bisher glücklichste Moment der letzten 10 Tage.

Der Hunger kommt zuverlässig und als der Regen gerade mal eine kurze Pause macht, öffne ich die Zeltwand und verspeise mit Aussicht auf den See mein kleines Abendbrot. Raus will ich nicht mehr, draußen ist alles naß, hier im Zelt zwar eng und unübersichtlich, aber warm und gemütlich. Irgendwann gegen 20:00 wird's dunkel, noch ein paar Seiten Lesen im Licht der Stirnlampe. Ich höre dem Regen zu, wie er aufhört - und gleich wieder anfängt. Irgendwann weiß ich, daß es Zeit ist, einzuschlafen. Entronnen den Hotels mit festen Frühstückszeiten, der Landesstraße 22, der Sehnsucht nach Autofahren. Statt dessen alleine im Wald und draußen nur Regen, Wind und Stille.

Bis ich irgendwann merke, daß ich nicht einschlafen kann. Ständig nach unbekannten Geräuschen lausche. Höre ich da ein Auto? Kommt da jemand den Berg runter? Was war das für ein Klatschen auf der Wasseroberfläche? Gibt's hier eigentlich Wildschweine (die dazu passende Suhle ca. 50m von meinem Zelt entfernt habe ich zwar vorhin gesehen, aber erst in diesem Moment des Nicht-Einschlafen-Könnens fällt der Groschen)? Scheiß Waldromantik, scheiß Outdoor-Kompetenz. Ich bin dämlich genug, noch im Dunkeln im Schlafsack mein Handy mit den Suchbegriffen "wildschweine zelten" zu füttern und weiß schon vor der Anzeige der Suchergebnisse, daß ich mir das lieber hätte sparen sollen.

Irgendwann machen auch die zahlreichen Vögel rund um den See und den Wald Feierabend und es wird richtig still. So still, daß man die Fische im See glucksen hören kann. Ich höre keine Wildschweine, denke aber viel zu viel an sie und schlafe irgendwann ein.

Dienstag, 19. April 2016

Tag 8: Schloßleben

Tag 8/9: 14.04.2016
Strzelce Krajeńskie nach Mierzęcin
7 h / 23 km

Mein kleines Hotel bleibt konsequent: Das Frühstück wird auf dem Teller wie bestellt zugeteilt. Aber was will man bei ca. 20 EUR Zimmerpreis incl. Frühstück auch meckern. Im Radio läuft ein italienischer Disco-Klassiker aus den 80ern und ich kriege fast feuchte Augen, weil der Song eine Zeitlang mal meine Endlosschleife beim Autofahren war.

So ist auch der heutige Sehnsuchtsfaktor klar: Ich trete in einen kühlen Morgen und wünsche mir nichts sehnlicher, als hinten auf dem Parkplatz in mein Auto zu steigen, den Diesel anzuwerfen, Sitzheizung ist ja sowieso schon eingestellt, und ab auf die 22 nach Nordosten. Statt dessen balanciere ich vorsichtig die Stufen vor dem Hotel hinunter zur Straßenebene und laufe dem Stau entgegen, der schon am Vormittag die komplette Innenstadt im Griff hat. Ich suche das Driesener Tor, das ich gestern Abend bei Sichtung des örtlichen Wikipedia-Artikels als sehenswert beurteilt habe. (Das muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Ich schaffe es offensichtlich noch nicht mal, nach meinen Wanderetappen noch einen kleinen Stadtbummel zu veranstalten. Vielleicht maximal noch schnell zu Biedronka, das Nötigste einkaufen: Orangensaft, Schokoriegel und Taschentücher. Statt dessen informiere ich mich dann im Internet, was mein gastgebender Ort so zu bieten hat.)

Das Driesener Tor ist - im Vergleich zur Abbildung im Wikipedia-Artikel - vollkommen enttäuschend, ich nehme die mehrsprachigen Geschichtshinweise auf diversen Tafeln noch wohlwollend zur Kenntnis, aber dann flüstert mir jemand ins Ohr, daß ich dringend hier weg muß. Das geht in Strzelce Krawelcze (Arbeitstitel) Gott sei Dank recht schnell: An der Tankstelle abbiegen, ein paar Neubau-Eigenheime anschauen und schon stehe ich auf dem Feld. Ein freudloser Weg, am Horizont wartet der Wald. 

In Długie laufe ich durch eine sehr tote und sehr unheimliche Feriensiedlung am See. Vorne an der Straße scheint im Sommer der Badeterrorismus zu toben: Budenstraße, breite Fußgängerunterführung unter der 22 durch, drüben immerhin Sand auf Strand, Andeutungen geschlossener Gastronomie und die Androhung von Badeparty, wenn es denn wärmer wäre. Gott sei Dank ist das nicht der Fall. Auf dem Weg durch die Siedlung denke ich erst noch: "Ogottogott, ist das schräg verfallen hier.", bis ich merke, daß  Feriensiedlungen im Osten Deutschlands eigentlich nicht viel anders aussehen.

Über die Unterschiede zwischen Brandenburg und Westpolen muß ich die nächsten Stunden noch ein bißchen nachdenken. Durch beide fährt man irgendwie nur durch und denkt sich beim Blick aus dem Autofenster, wie sehr hier doch die Zeit stehengeblieben ist. In Polen denkt man zusätzlich oft noch: Mein Gott, muß das sein?. Wo in Brandenburg oft schon resigniert aufgegeben wurde, regt sich in Polen oft noch ein unerschütterlicher Glaube daran, daß es vielleicht doch geht. Das Ergebnis sind Schilder, Schilder, Schilder. Jede Landesstraße in Polen muß aus dem All mindestens genauso gut erkennbar sein wie die Chinesische Mauer, weil die riesigen Schilder (gerne auch in Neon) durchgehend beide Seiten der Straße säumen. 
Auch der Trend zum Neubau-Eigenheim ungebrochen, da nehmen sich Polen und Brandenburg erstmal nichts. In Werneuchen bin ich durch kilometerlange Neubaugebiete gelaufen, die bietet mir Polen auch an nahezu jedem Dorfrand. Mit zwei feinen Unterschieden: Es wird hier auf größeren Grundstücken gebaut und es wird Wert auf Accessoires gelegt. Die polnische Liebe zum säulenverzierten Eingang und dem schmiedeeisernen Gartenzaun zwischen gemauerten Pfosten ist unübersehbar.

Aber davon ist im Wald nicht viel zu sehen. Irgendwo einige hundert Meter rechts kreischen die Motorsägen im Holz, das Schild mit "Waldarbeiten! Betreten verboten!" habe ich zwar verstanden, aber selbstverständlich ignoriert. Und außer dem Fahrer des Holz-LKW, den ich für einen Moment hinten am Ende der Waldlichtung beim Pause machen erspähe, sehe ich die nächsten Stunde kein Lebenszeichen. Außer vielleicht von der dämlichen Zecke, die ich mir am Waldrand von der Hand klaube. Wie zur Hölle ist die denn da bitte hingekommen? Können die Biester jetzt schon fliegen? Ich bin seit Stunden nur auf 4m breiten Forststraßen unterwegs!

DIESE dämlichen Schilder gibt's auch in Niemcy...
Zwei Kilometer später stehe ich sehr skeptisch vor einem Feld mit Weinreben, die aber dafür auch nur so halb lebendig aussehen. Am schmeideeisernen Tor des etwas neureichen Neubau-Anwesens am Waldrand steht "Winnica", der - wie ich später noch lernen werde - polnische Ausdruck für "Weinberg". Hier zur Hölle wächst Wein? Ich hab gerade bei meiner Pause alle meine Klamotten angezogen, um nicht zu frieren...

Die nächste gute Stunde ist Laufen vom Feinsten. Ich finde Wege zwischen Wald und Feld dort, wo laut Karte eigentlich keine sind, ich sie aber bestens gebrauchen kann. Wege, die zu der klassischen Schlagzeile passen würden, nachdem Spaziergänger bei XY eine Leiche gefunden haben. Ich sehe die erste asphaltierte Straße seit 3 Stunden und husche drüber, ohne ein Auto zu sehen. Hinter Słonów bekomme ich Lust auf eine ausgedehnte Pause, weil die Sonne rauskommt. Also setze mich ins Gras neben dem Weg, lese ein bißchen - bis mir irgendwann mitten im Kapitel kalt wird und ich merke, daß ich weiter muß.

Die Wahl der heutigen Übernachtungslocation war in den letzten Tagen ein heißes Diskussionsthema in meinem Kopf. Zur Wahl standen eine günstige Bauernhofpension ohne Abendessen und Frühstück in einem Kaff oder das - festhalten! - "Pałac Mierzęcin Wellness & Wine Resort". Ich habe mich aus Luxusgründen für Letzteres entschieden, auch wenn ich das seit ein paar Tagen schon fast wieder bereut habe. Eigentlich wäre es gut gewesen, die Übernachtungsauswahl nach meinem 20-EUR-Hotel weiter aufzurauen, um meine Ansprüche auf ein gerüttelt Maß runter zu schrauben. Das neben dem Schloß gelegene Dorf hat so gar nichts mit Wellness und Wine zu tun und erinnert mich ein letztes Mal daran, daß vielleicht "Agroturystyka Dutkowski" doch die bessere Wahl gewesen wäre.

Statt dessen bucht ein Dödel wie ich das "Pałac Mierzęcin Wellness & Wine Resort". So einen Namen lässt man sich natürlich auch bezahlen und erwartet entsprechendes Klientel. Der Laden besteht aus einem riesigen Areal mit Park und ausgedehnten Wirtschaftsgebäuden aus altem Backstein. Als ich durchs Tor laufe, scharwenzelt der Pförtner hinter mir hier und fragt mich irgendwas, klingt nach "Wo wollen wir denn hin?". "Hotel, Hotel", brabbelt der stumme Deutsche. Der Typ will mir daraufhin ernsthaft weismachen, daß es hier kein Hotel gäbe. Sehe ich tatsächlich schon so schlimm aus? Ok, ich komme hier nicht in meinem A4 Kombi mit Berliner Kennzeichen an, sondern in staubigen Schuhen und mit einem überdimensionalen Rucksack, aber der Hieb sitzt. Erst der Hinweis auf meine "rezerwacja" läßt den Torhüter verstummen und mich weiter aufs Gelände ziehen, wo ich mich plötzlich gehörig fehl am Platz fühle.

Dieser Eindruck verstärkt sich noch mächtig, als ich die Tür zum Schloß öffne, um an der Rezeption meinen Schlüssel abzuholen. Den beiden Angestellten ist die Überraschung leider auch ein wenig ins Gesicht geschrieben, was sich für einen Moment Scheiße anfühlt, dann aber sofort zum Konter führt, in dem ich in flüssigem Englisch auf meine Reservierung hinweise und die Kreditkarte zücke.

Später im Restaurant wendet sich das Blatt. Die Preise sind für polnische Verhältnisse happig, aber im Vergleich zu einem ordentlichen Essen in Berlin immer noch vollkommen ok. Das Ambiente ist top, es schmeckt vorzüglich und ich investiere 50 EUR in ein dreigängiges Steak-Abendessen mit diversen Weinen. Als ich über den Hof zu meinem Zimmer schlendere, wird es gerade dunkel und es riecht nach frischem Regen. Und ich bin nun doch sehr zufrieden mit meiner Entscheidung. Daß ich dafür als Kontrast morgen Abend im Zelt übernachten werde, paßt dabei bestens in Bild.

Montag, 18. April 2016

Tag 7: Mit dem Gestern im Gepäck

Tag 7/8: 13.04.2016
8,5 h / 30 km
Gorzów Wielkopolski nach Strzelce Krajeńskie

Schon beim Weg runter in den Keller zum Frühstück merke ich, daß gestern einfach zu doll war. Meine Füße sind wieder im Eimer und ich fühle mich einige Tage zurück versetzt und taste mich wieder langsam - Stufe für Stufe - die Treppen hinab. Verflogen ist die Leichtigkeit, mit der ich gestern früh nach meinem Pausentag zum Frühstück hüpfte. Selber Schuld, alter Mann. Ich habe mir gestern die Heilung, die langsam einsetzte, einfach wieder kaputtgelaufen.

Der Tag beginnt noch dazu mit der bitteren Gewissheit, daß ich immer noch nicht weit genug von Berlin bin. Am Straßenschild vor der Hoteltür ist Berlin immer noch als Ziel ausgeschrieben. Und das, obwohl ich schon seit einer Woche unterwegs bin. Ohne der Innenstadt noch einen Blick zu schenken, drehe ich mich nach links und und verlasse über die nächstgelegene Schnellstraßenbrücke die Stadt. Schnell nochmal über die Warthe, wird wohl das letzte Mal auf dieser Reise sein, wenn mich nicht alles täuscht.

Dorfpanorama / Finde den Fehler...
Gorzów dünnt schnell aus, schon nach 1x Abbiegen kommt das Villenviertel, dann die Vorstadt, dann das Dorf. Das morgendliche Grau in Grau macht schnell Platz für die Sonne und es wird ein überraschend schöner Tag. Durch Straßendörfer wie Czechów, in denen so viele neue Häuser gebaut wurden, daß die Hausnummern 41a-41m aufgemacht werden mussten. Durch Janczewo, wo ich gleich drei Skleps und die angebotenen Getränke links liegen lasse, was ich schon eine halbe Stunde später auf dem Feld wieder bereue.

In den Dörfern mache ich meine ersten Bekanntschaften mit Dorfhunden: Die großen Exemplare eigentlich immer im Zwinger, wachsam, aber auch nach einigen Bellern zufrieden. Die kleinen Kläffer allerdings laufen zur besonderen Belustigung des Wanderers meist frei herum. Und es bewahrheitet sich die alte Regel: Je kleiner, desto lauter, desto nerviger. Eigentlich kein Problem, aber bei dieser einen Dackelmischung hätte ich mir wirklich so sehr gewünscht, daß er nahe genug für einen Fußtritt rangekommen wäre...

Im Wald ist wieder Ruhe im Karton. An einem trotz Frühlingslicht eher herbstlichen See mache ich mir eine schöne Mittagspause in der Sonne zurecht, lese ein paar Seiten und schnipse Ameisen von meinem Rucksack. Als ich nach einer Stunde wieder loslaufen will, bin ich plötzlich 30 Jahre älter: Alles brennt/sticht/reißt. Die altbekannten Stellen an meinen Füßen melden sich nach der Pause überdeutlich zurück und zwingen mich zu mehr Humpeln als Gehen, was erst nach einer guten Viertelstunde langsam wieder wie eine flüssige Fortbewegungsart aussieht. Die 33km gestern waren einfach noch zu viel. Heute droht mir ungefähr dasselbe Pensum: Die ehemals locker geschätzten 25km für heute (lässig bei GoogleMaps er-fragt und nicht hinter-fragt) hatten sich bei genauerem Hinsehen und der Weigerung, für 25km auf der Landesstraße 22 zu gehen, für heute eher schon wieder in Richtung 31km verschoben. Also verfluche ich meinen jugendlichen Leichtsinn und versuche, Strecke zu machen.

Der bisher breite Forstweg führt runter eine Art Feuchtwiesental und macht sich schlank: Hier fährt nix mehr mit Rädern, viel zu verwuchert, viel zu nasser Boden. Aus dem Weg wird ein Pfad, auch der verschwindet kurz darauf endgültig und der Mensch, der hier einen Wanderweg hinmarkiert hat, wird gewußt haben, wieso er untypischerweise an jeden fünften Baum eine Markierung gepinselt hat. Auftritt Unterholz, Auftritt Bach (so schätzungsweise bis zur Hüfte an der tiefsten Stelle). Über jedes Bacherl geht a Brückerl ist Fehlanzeige, aber auf der anderen Uferseite ist unübersehbar eine Markierung an den Baum gemalt und praktischerweise liegt genau davor eine umgestürzte Buche im Wasser. Gibt es denn hier auch...? Aber ja, irgendein guter Mensch hat am Baum neben mir einen schönen dicken Ast deponiert, perfekt als Stütze zum drüberbalancieren. Ich begrüße diese Abenteueretappe außerordentlich, eiere trockenen Fußes über den Bach, lehne den Knüppel an einen passenden Baum und freue mich.

Auf dem Waldparkplatz neben dem See ein paar hundert Meter weiter treffe ich auf ein Rentnerpaar, die nach guter französischer Sitte die Campingstühle neben ihrem Auto aufgebaut haben und nicht schlecht staunen, als ich durchs Unterholz gebrochen komme. Die Dame begrüßt mich mit jovialen Worten und wird von meinem mangelnden polnischen Wortschatz sofort ausgebremst, da der so ungefähr nach "Przepraszam..." endet. Mit den nachfolgenden englischen Vokabeln kann sie wiederum nix anfangen und so stehen wir irgendwie peinlich berührt im Wald herum und das Gespräch verebbt so schnell, wie es auch angefangen hat. Schnell gelächelt, schnell weitergezogen.

Nochmal zwei Stunden durch den Wald, das Brennen in den Stiefeln ignorierend. Spätestens ab Sławno, dem letzten Dorf vor meinem heutigen Ziel, ist sowieso der Spaß vorbei und ich spule nur noch meine Kilometer auf der Straße ab, um ja nicht stehen zu bleiben. Damit ich danach nicht wieder loslaufen muß, was viel schmerzhafter ist, als einfach weiter zu laufen.

Das Hotel Staropolski liegt gnädig auf der nächstgelegenen Seite der Stadt, ich entdecke mit einem Laut der Entzückung den Getränkekühlschrank neben der Rezeption und begutachte auf dem Zimmer erstmal die Schadenslage an meinen Fersen und der mir wohlbekannten Schwachstelle "kleiner Zeh rechts". Nach der Dusche habe ich zunächst keine Kraft, was Essen zu gehen und sinke erstmal in einen zweistündigen Schlaf, bevor mich der Hunger am Abend dann doch noch runter treibt. Der Laden ist günstig, billig fast, was sich auch im Restaurant niederschlägt, aber das ist heute total egal. Es gibt Żurek und Kohlrouladen und dank Mikrowellenballett geht das alles ganz schnell, was mir gerade nur recht sein kann. Umso schneller kann ich wieder ins Bett. Ich nehme mir noch ein eiskaltes Bier mit aufs Zimmer und beende den Tag mit einer gehörigen Portion Respekt vor morgen.


Sonntag, 17. April 2016

Tag 6: Das ging schief...

Tag 6/7: 12.04.2016
9 h / 33 km
Witnica nach Gorzów Wielkopolski

Zum Frühstück gibt es wieder Ei mit Ei und Fleisch mit Fleisch. Und ein bißchen Tomaten mit Zwiebeln. Polen hat im Übrigen ein weiteres Mal mein Herz erobert, indem hier offensichtlich Tee das Standard-Frühstücksgetränk ist. Noch in Brandenburg stand gerne mal ungefragt die fertig gebrühte Kanne Kaffee auf dem Tisch, hier sehe ich erstmal nur den Wasserkocher. 

Nachdem ich später Ewigkeiten brauche, um auf dem Zimmer meinen Kram wieder komplett und an die jeweils richtige Stelle im Rucksack zu packen, stehe ich erst gegen halb zehn unten und gebe meinen Schlüssel ab. Der Wirt freut sich, daß es mir bei ihm gefallen hat, läuft nochmal schnell ins Restaurant und kommt mit einer Flasche Bier wieder, die er mir zum Abschied schenken will. Die neueste Kreation der örtlichen Brauerei, die patriotischer nicht sein könnte. Polska! Blöd ist nur, daß in meinem Rucksack schon eine Halbliterdose Łomza steckt, die ich gestern Abend nicht mehr obendrauf trinken wollte. Jetzt laufe ich also mit 1.000 Gramm plus Verpackung Bier herum. So ein Shit...

Mein Weg für heute schlängelt sich durch den Wald und die kleinen Hügelchen oberhalb der Wartheniederung. Das klappt zunächst ganz gut, auch wenn ich schnell feststelle, daß die 1:100.000er-Karten, die ich mir für Polen relativ flächendeckend zugelegt habe, die meiste Zeit relativ unbrauchbar sind (dankenswerterweise haben sie auch nur 1,70 EUR / Stück gekostet). Zur groben Routenplanung geht's, aber im Gelände überprüfe ich die meiste Zeit dann doch mit der Karten-App auf dem Handy, ob ich noch richtig liege. Und ich will dazu jetzt KEINE Kommentare hören!

Sehr richtig liege ich jedenfalls in dem Moment, als der erste ordentliche Regenschauer des Tages beginnt. Praktischerweise steht hundert Meter weiter ein Aussichtsturm, auf dessen oberster Plattform ich es mir bequem mache und dem Regen zuschaue, ein bißchen telefoniere und kurz überlege, ob ich eines von den Bieren knacken soll. Lieber nicht, ich hab noch ein Stück Weg vor mir...

Eigentlich besteht der Tag nur aus:
- auf 450 kleine Hügel rauf,
- von 450 kleinen Hügeln wieder runter,
- um 287 kleine Hügel links herum und
- um 223 keine Hügel rechts herum.
Dabei mache ich zahlreiche Umwege, treffe aus Versehen sogar zwei Wanderer und obwohl ich bis zum frühen Nachmittag das Gefühl hatte, daß ich gut voran kommt, beginnt sich die Sache irgendwie massiv zu ziehen.

Das Erste, was ich Gorzów Wielkopolski sehe, ich die Müllsortieranlage, gefolgt von der Mülldeponie und dem Friedhof direkt neben und mit Aussicht auf die Mülldeponie. Spannend, wie viele Gerüche man hier gleichzeitig erleben kann. Danach geht es 3 km die Straße entlang, die die Müll-LKWs zur Mülldeponie nehmen, bis ich endlich kurz vor dem Industriegebiet abbiegen kann. Nachdem ich kein Polnisch kann, nehme ich wohl wahr, daß da irgendwas mit Baustelle steht und auch irgendwie was mit S3 (meint: die Schnellstraße S3, die ich gerne da vorne durch die einzige Unterführung weit und breit unterqueren würde).

Dem geneigten Leser wird das hämische Lachen schon in den Hals gestiegen sein: Pustekuchen. Baustelle meint in diesem speziellen Fall, daß die Unterführung nicht mehr existiert und die Herren in Orange statt dessen gerade eine Brücke über die Schnellstraße zusammenbasteln. Ich versuche den Bauarbeiter, der gerade oben über die zumindest in Grundzügen fertige Brücke läuft, mit Gesten anzubetteln, mich vielleicht doch rüber zu lassen. Aber nix... Also Umweg. Die nächste Möglichkeit ist die Anschlußstelle/Ausfahrt weiter im Norden, was nicht nur 3-4 km Umweg bedeutet, sondern auch noch angstvolles Balancieren am Straßenrand, weil auch neben der Straße alles wegen Bauarbeiten aufgerissen und umgepflügt ist und einfach kein anderer Platz zum Gehen da ist. Passenderweise ist es inzwischen auch später Nachmittag und mir rollt der Feierabendverkehr aus Gorzów Wielkopolski heraus entgegen. Bei der nächsten Gelegenheit biege ich von der Hauptstaße ab und suche mir eine Alternative, auch wenn das schon wieder einen Umweg bedeutet...

Eigentlich wollte ich schon längst da sein -- ich hatte die Strecke so auf entspannte 25 km geschätzt. Aber ich bin schon viel zu lange unterwegs und bis runter ins Stadtzentrum (wo mein Hotel für heute Abend liegt) sind es auch bei sehr freundlicher Schätzung noch locker 6-7 km. Erschwerend kommt dazu, daß ich hier schon ein paar Mal war. Mit dem Auto, wo mir die Entfernungen eigentlich ganz übersichtlich vorkamen. Ein paar Momente, und man ist aus der Stadt raus. Den Tesco am Kreisverkehr kenn ich, da stand ich mal mit dem Dodge Challenger auf dem Parkplatz und hab versucht, das Radio zu reparieren. Das verspiegelte Haus auf der Aleja Konstytucji 3 Maja (ohne es zu wissen, vermute ich: "Allee der Konstitution des 3 Mai"). Die Warthebrücke rüber zum neuen Einkaufszentrum NoVaPark, das erst vor Kurzem wie ein UFO neben der Innenstadt gelandet ist. Kenn ich alles, Spaß macht es aber heute nicht mehr. Die letzten zwei Stunden sind einfach nur Kampf (was sich auch darin wiederspiegelt, daß ich keine Lust mehr hatte, Fotos zu machen).

Im Hotel krieche ich in den 2. Stock und fühle mich vollkommen ausgelaugt. Solche Tage sind die Schlimmsten: Du erwartest Mittelmaß, vielleicht 6 entspannte Stunden -- und dann bist du 9 Stunden unterwegs, die dazu noch am Anfang schön und am Ende zum Kotzen sind.

Meine Aussicht heute Abend...
Nach dem Duschen werfe ich mich erstmal für eine halbe Stunde ins Bett und warte, bis der globale Schmerz in Füßen und Waden sich soweit gelegt hat, daß ich die Schmerzen wieder einzelnen Stellen zuordnen kann. Heute wäre DER Abend für Zimmerservice, damit ich mich nicht mehr rausbewegen muß, aber das Hotel hat kein Restaurant. Eigentlich bin ich kurz davor, das Abendessen komplett ausfallen zu lassen, weil ich einereits nicht mehr raus will, andererseits nicht wirklich Hungergefühl habe. Als ich aber merke, wie schnell ich nach dem Aufstehen friere und zittere, schwant mir, daß der Körper heute noch was in den Magen braucht. Also gebe ich dem Abend einen würdigen Abschluß und wanke rüber ins Einkaufszentrum, das ich zufällig vor ein paar Wochen schonmal auf der Suche nach einem Autoatlas durchpflügt hatte. Es gibt einen Food-Court mit KFC, Northern Fish, Berlin Döner (!?!), Kuchnie Polskie, New York Hot Dogs und Bubble Tea. Irgendwie schlimm hier, aber auch irgendwie gut: Essen und wieder zurück. Ich hätte heute null! Bock darauf gehabt, mich in der Stadt nochmal "nett ins Restaurant zu setzen".

Wenigstens endet der Tag mit der befriedigenden Gewißheit, daß ich die 1.000+x Gramm Bier morgen nicht mehr schleppen muß. Die hab ich nämlich eben beim Schreiben nebenbei abgearbeitet...