Montag, 11. April 2016

Tag 1: Raus aus der Stadt...

Mittwoch, 06.04.2016
6,5 h / 28 km
Berlin-Weißensee nach Werneuchen 

Der erste Morgen auf Tour. Gleichzeitig der letzte Morgen zuhause. Ich wache viel zu früh auf und habe sofort einen wehmütigen Gedanken im Kopf: "Verdammt, das ist das letzte Mal für einige Monate, daß du in deinem eigenen Bett schläfst."

Eigentlich ist alles vorbereitet, ich kann noch in Ruhe frühstücken und letzte Handgriffe tun, bevor ich gegen Mittag aufbrechen will. Alles ist vollkommen entspannt und zugleich bin ich nervös wie vor einer Operation.

Als ich mir später vor der Haustür die Stiefel zubinde, läuten die Glocken der Kirche nebenan: High Noon. Wie passend. Ich trete einen Schritt zurück, schaue mir meine Wohnung nochmal von außen an, frage mich die unvermeidliche Frage "Haste alles?", widerstehe der Versuchung, nochmal nachzuschauen ob alle Fenster zu sind und drehe den Schlüssel im Türschloß herum. Neues Kapitel.

Meinen Schlüsselbund werfe ich bei den Nachbarn in den Briefkasten, es fühlt sich schon fast an wie eine Befreiung und die ersten Schritte raus auf die Strasse erinnern mich an die ersten Schritte von Kühen auf der Weide nach einem langen Winter: Glücklich, übermütig, aber auch etwas wackelig. Raus auf die Behaimstrasse, eine Strasse weiter treffe ich meine Nachbarin an der Ecke, klopfe zum Abschied noch bei meiner Hausverwaltung ans Fenster und ziehe über den Mirbachplatz in Richtung Roelckestrasse. Und dann fängt es - als kleine Begrüßung auf der Tour - erstmal zu regnen an.

Nach zwanzig Minuten laufe ich am ersten Gartengrundstück vorbei, kurz danach sehe ich die ersten Hühner im Gras picken. Um mich herum dröhnt noch der Verkehr der Ausfallstraße, links der Baumarkt, rechts die Tankstelle. Und mittendrin ich - der einzige Fußgänger, der Wanderer mit dem viel zu großen Rucksack. Ich fühle mich total fehl am Platz und hoffe inständig, daß mich niemand neugierig anquatscht. Es wäre ein absurder Dialog geworden: "Na, wo soll's denn hingehen? - Nach Estland. - Und wie lange sind Sie schon unterwegs? - Naja, so gute zwanzig Minuten...". 

In Malchow wird's besser. Die Autos haben zwar noch Berliner Kennzeichen, aber eigentlich bin ich schon auf dem Dorf. Bei meiner ersten kurzen Rast am See/Teich/Weiher finde ich neben der Bank einen Cent -- der sofort in meiner Hosentasche verschwindet. Die Aufgabe ist sofort ebenso kitschig wie klar: In Tallinn ins Meer werfen. 


Ich staune, wie schnell ich aus der Stadt raus bin: Nach einer halben Stunde endet der gepflasterte Gehweg. Nach einer dreiviertel Stunde stehe ich das erste Mal auf dem Feld. Nach eineinhalb Stunden sehe ich das erste Reh. Raus bin ich aus der Stadt, hinter mir gelassen habe ich sie noch lange nicht. Am Horizont zeichnen sich noch lange die Wohnblöcke von Wartenberg und Hohenschönhausen ab, ein scharfer Kontrast zu der Feldsteppe, die die Leere bis zur Autobahn füllt. Wieder kommt mir das Wort "Transitland" in den Sinn: Hier ist nix, hier will keiner sein, alle wollen entweder aus der Stadt zur Autobahn oder umgekehrt. Auch ich muß da mittendurch. Eigentlich laufe ich vor der Stadt davon, ich will raus. Kurz vor Lindenberg mache ich aus symbolischen Gründen ein nicht sehr originelles Foto vom Ortsausgangsschild, das dennoch auf jeden Fall zum Pflichtprogramm gehört.

Hinter dem verkehrsgünstig gelegenen McDonalds beginnt die Einfamilienhaus-Idylle mit ihren ausgelatschten Pfaden, auf denen die Dorfbewohner ihre Hunde ausführen. Vorbei am hervorragend gesicherten Gelände der Bundespolizei. Über den kleinen Bahnübergang, der trotz seiner Nähe zur Stadt überraschenderweise ohne Schranken oder Ampeln auskommt. Hinter Ahrensfelde endlich das erste Mal so richtig im Wald. Und nur knapp 10 Minuten später stehe ich schon wieder an der Bundesstraße und hacke auf dem Radweg neben dem rauschenden Verkehr von Betonmischern und Rentnern in PKWs meine Schritte in den Asphalt. Ich weiß, was da vorne kommt: Der nächste autobahnnahe McDonalds, der nächste Baumarkt, dann die Autobahn. Ich kenne das, was da so alles kommt; mit dem Auto bin ich hier schon oft genug langgefahren. Und genau das macht die Sache heute so deprimierend: Entfernungen, die man sonst mal eben so abreitet, bedeuten jetzt einen halben Tag. Werneuchen? Ist doch eigentlich gleich hinter dem Tanklager Seefeld, nicht weit von der Autobahn. -- Zu Fuß fühlt sich das alles ganz anders an.

Immerhin: Die erste richtige Grenze des Tages. Ich ziehe über die A10, den Berliner Autobahnring. Drinnen ist Stadt, draußen ist Land. Und tatsächlich scheint jenseits der Autobahn irgendetwas in mir aufzuatmen: Das Schlimmste liegt hinter mir. Vor mir liegt Weite mit Windrädern und fleißigen Bauern auf dem Acker. In Blumberg biege ich nach links aufs Feld ab und lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Es geht ein leichter Wind und alles könnte so schön sein: Wenn ich nicht bei jedem Schritt merken würde, daß ich einen Riesen-Fehler gemacht habe. Vielleicht auch mehrere... Die Tour heute ist viel zu lang für den ersten Tag, vor mir liegen noch zwei Stunden und ich bin schon vollkommen durch. Meine Wasserflaschen sind längst ausgetrunken. Der Rucksack ist viel zu schwer, weil ich nicht konsequent genug gepackt habe (letzte gültige Messung: 22kg). Und vor allem: Vielleicht hätte ich die "neuen leichten Stiefel" doch etwas intensiver einlaufen müssen als ein paar Tage auf La Palma. Ich spüre die frischen Blasen an meinen Füßen. So sehr, daß bald jeder Schritt weh tut und ich ahne, daß ich heute Abend zerschunden ankommen werde.

Ich habe meine eigene goldene Regel mißachtet: Die ersten Tage immer schön unterfordern und sich dann langsam steigern. Jetzt stehe ich hier auf dem Feldweg zwischen Blumberg und Löhme und habe Angst, heute Abend meine Stiefel auszuziehen. Lange habe ich nicht so fette Blasen unter den Füßen gespürt und in mir kommen leise Zweifel. Werden die nächsten Tage überhaupt machbar sein? Schaffe ich die 28 km, die ich mir morgen vorgenommen habe? Und den Tag danach und den Tag danach? Boah, was bin ich selber schuld...

Monsieur L'Ombrage, der geschätzte Mitwanderer meiner Frankreich-Tour 2012 meldet sich per Handy und erinnert mich daran, daß wir den ersten Abend dieser Tour zusammen verbringen wollten -- was ich total vergessen hatte. Wir verabreden uns in Werneuchen, ich beiße auf den letzten Kilometern die Zähne zusammen und hoffe inständig, daß Monsieur mich nicht zufällig an der Straße trifft und mir anbietet, bis Werneuchen mit dem Auto mitzufahren. Heute wäre ich fast soweit, gleich am ersten Tag zu schummeln...

Die letzten Kilometer sind grausam schön. Die Wege sind gesäumt von blühenden Bäumen und sattgrünem Gras, auf den Feldern Rehe und die ersten Störche. Aber ich kann es nicht genießen, sondern starre statt dessen immer wieder auf die Wanderkarte, um mein vermeintliches Fortkommen zu vermessen. Als ich zwei Kilometer vor dem Ziel die im Feierabendverkehr dröhnende B158 überquere, will ich einfach nur noch ankommen.

In Werneuchen kommt mir Monsieur L'Ombrage ein bißchen entgegen gelaufen. Es ist wie damals in Frankreich: Wir treffen uns an einer lauten Durchgangsstrasse, einer von uns beiden hat einen Rucksack auf und der andere ist nicht zu Fuß hierher gekommen. Im Hotel stürze ich erstmal eine große Cola runter, nach einer schnellen Dusche sitzen wir im Gastraum und sind die einzigen Gäste. Ich fühle mich niedergeschlagen angesichts der Qualen des heutigen und der Aussicht auf die kommenden Tage. Sicher, der Anfang meiner Touren war bisher immer irgendwie schwierig, aber das hatte ich in meiner Vorfreude der letzten Wochen offenbar erfolgreich verdrängt. So wie heute kann es morgen nicht weitergehen. -

Ich beschließe, daß der Rucksack rigoros entrümpelt werden muß, wenn ich mir wenigstens eine Chance auf entspanntes Wandern erhalten will. Viele der Dinge, die ich gestern noch für unverzichtbar hielt und deswegen auf den "Mitnehmen"-Haufen geworfen habe, werden wieder aus dem Rucksack raus müssen. Besonders absurd fühlt sich dabei an, daß ich ca. 5 kg an Zelt/Isomatte/Schlafsack mit mir herumtrage. Gewicht, das ich in den ersten Tagen (wo ich noch im Hotel übernachten werde) quasi nutzlos mit mir herumtrage. Aber die Campingsachen zurücklassen wäre genauso fatal: Plötzlich wäre ich wieder zu 100% an touristische Infrastruktur gebunden und eine mahnende Stimme in mir macht deutlich, daß das keine gute Idee wäre.

In den Zimmern nebenan beziehen die Windradmonteure ihr Quartier, vor dem Fenster rauscht die Bundesstraße und ich liege noch lange grübelnd wach, auf meiner knarrenden Pritsche kurz vor den Toren Berlins.

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