Donnerstag, 21. April 2016

Tag 10: Huch! Tourismus!

Tag 10/11: 16.04.2016
Zeltplatz Rokitno (Jez. Rakowe) nach Załom
6,5 h / 24 km

Ich wache nach einer ruhigen Nacht früh auf, die Welt außerhalb meines Zeltes ist patschnaß, über dem See liegt leichter Nebel und es ist empfindlich kalt. Viel zu lange habe ich gestern Nacht noch nach Wildschweinen gehorcht, aber das werde ich mir hoffentlich auch bald noch abgewöhnen. Geschlafen habe ich am Ende eigentlich ganz gut, aber gefühlt zu wenig, so daß ich mich sofort dazu entschließe, mich nochmal in den Schlafsack zu werfen. Schließlich will man ja auch dem Zelt eine Chance geben, trocken zu werden, bevor man es einpackt. Während ich so in den Vormittag hinein döse, muß ich lange überlegen wieviele Jahre ich eigentlich nicht mehr richtig im Wald geschlafen habe. Wahrscheinlich vor rund 15 Jahren, bei einer meiner Touren in Norwegen.

Insgesamt merke ich nach meiner ersten Nacht im Zelt, daß es gerne noch ein wenig mehr Sommer werden könnte. Mehr Wärme am Morgen und vor allem mehr Licht am Abend tragen doch erheblich dazu bei, daß eine Übernachtung im Zelt den nötigen Entspannungsfaktor nach einer Wanderetappe hat. Außerdem im Angebot der Erkenntnisse: Zelten = Chaos. Wenn ich in irgendwelchen Landstraßenhotels ankomme, ist meine Choreographie inzwischen vollkommen eingespielt. Der Rucksack explodiert, die immer gleichen Plastiktüten mit dem immer gleichen Inhalt landen immer an vergleichbaren Orten und ich weiß, wo ich suchen muß. Gestern Abend habe ich gefühlt 90% der Zeit damit verbracht, nach meinem Buch oder dem Taschenmesser zu kramen, weil sie im Zelt von irgendwelchen Klamotten, Tüten oder der Isomatte vergraben waren. Gleichzeitig war der Abend nach Ankommen/Waschen/Zelt aufbauen/Habseligkeiten sortieren/Abendbrot derartig schnell vorbei, daß ich unmöglich noch mein Schreibpensum geschafft hätte. Also: Nachsitzen...

Trotzdem bin ich heilfroh, die erste Nacht auf dieser Reise gezeltet zu haben. Endlich trage ich die 5kg Zelt/Isomatte/Schlafsack nicht mehr sinnlos mit mir herum, sondern aus gutem Grund. Und ich habe mich gestern intensiv über die neu gefühlte Freiheit gefreut, keine Verpflichtungen zu haben und mich jederzeit überall niederlassen zu können, wo es mir gerade gefällt. Zelten ist in gewisser Weise anstrengend, aber auch richtig schön. Am Ende wird die richtige Mischung das Maximum an Reisespaß ausmachen.

Die Wanderkarte verheißt heute Gutes: Zahlreiche markierte Wege, zahlreiche Symbole mit touristischen Besonderheiten. Der Drawieński Park Narodowy ist Paddelrevier, Naherholungsgebiet und insgesamt erstaunlich schick anzusehen. Es gibt Wanderwege durch raschelndes Laub, hoch über der Drawa, die im Sommer sicherlich massiv bepaddelt wird. Oben am Steilhang finden sich die Reste der Ringwallanlage "Szwedzkie Szańce", was sich nach 1x laut Vorlesen sicherlich mit "Schwedenschanze" übersetzen lässt. Ich kraxele ein bißchen durchs Unterholz und baue in meiner kindlichen Baumeisterfantasie die Befestigungsanlagen neu auf. 

Knapp zwei Stunden später nutze ich dankbar die Picknickbank unten am See, Schuhe aus, Füße ausstrecken. Von der Vormittagssonne ist inzwischen kein Zipfelchen mehr zu sehen, das Einheitsgrau der Nachmittagswolken hat schon wieder alles verschluckt. Eigentlich sieht es schon fast wieder ein bißchen nach Herbst aus. Ein kurzer Schauer kündigt sich an -- und Auftritt: Drei junge Wanderer in vollem Ornat, mit großem Rucksack und Isomatte obendrauf. Ich bin so verdattert, daß ich gerade noch schnell mein "Dzień dobry!" rauskriege, bevor sie auch schon wieder um die nächste Ecke verschwunden sind. Ok, Naherholungsgebiet + Wochenende =offensichtlich Campingtrip.

Fünf Minuten später die nächsten Zwei, die aber wohl nur schnell wegen des Wetters zum Auto zurückhuschen. Der schöne Dreiklang "Regentropfen - Autotür - Abfahrt" bringt mich gehörig zum Schmunzeln.

Als ich den See gerade umrundet habe, höre ich um ersten Mal Donner von schräg hinten. Ach du Scheiße: Gewitter? Hier? Jetzt? Die nächsten paar Donnerschläge ignoriere ich offensiv und freue mich statt dessen über die Siedlung Ostrowite im Wald. Eine uralte Baumallee, zwei alte Häuser. Eines wurde frisch renoviert und wirkt wie ein leer stehendes Seminarhaus, das alte Forsthaus daneben ist vernagelt und verfällt in stiller Melancholie. Gegenüber stehen zwei neuere Häuser, die sich aber schön in das Ensemble auf dieser winzigen Lichtung im Wald einfügen, aus den Schornsteinen kommt der heimelige Geruch von einem Feuer im Kamin. Der Regen setzt ein, diesmal - zum ersten Mal auf dieser Reise - mit ernstem Nachdruck. Das fühlt sich nicht nach einem Schauer an, der in 3 Minuten wieder vorbei ist.

Vorne am Waldrand gibt's eine Infotafel mit kleinem Dach darüber, ich stelle mich unter und lege für mich die Regenjacke an und für meinen Rucksack die Regenhülle. Und dann stehe ich da wie bestellt und nicht abgeholt. Neben mir die Ruinen einer alten Kirche, daneben noch der alte Friedhof. Als ich die Kirchenmauern auf der Suche nach einem besseren Platz zum Unterstellen abchecke, sehe ich im Vorbeilaufen auf den alten Grabsteinen deutsche Namen wie Schmitz und Friedrich. Schon seit Tagen schwebt in meinem Hinterkopf, daß ich durch ehemalige Gebiete des Deutschen Reiches laufe. Pommern, Westpreußen, später Ostpreußen. Ich sehe es an den alten deutschen Ortsnamen, die mich in meiner Kartenapp immer wieder verwirren. An den vielen Straßennamen aus Friedrichshain und Prenzlauer Berg, deren Herkunft ich hier wiedererkenne. Krossener Straße. Küstriner Straße. Drossener Straße. Driesener Straße. An alten Wegsteinen mitten im Wald, die an der Kreuzung von zwei namenlosen Sandwegen die längst vergangene Richtung anzeigen. An Giebeln halbzerfallener Häuser, die noch die Reste von einer Werbeaufschrift tragen, die vor Generationen dort angebracht wurde.

Aber im Jetzt, im Hier? Geht mir der Regen näher als die Erinnerung an eine vergangene Zeit. Vom Rumstehen ist noch niemand angekommen, also ziehe ich hinaus in den Regen und ärgere mich, daß ich die letzten zwei Stunden bis zu meinem Ziel patschnaß werde. Einen Vorteil hat das Wetter allerdings: Es beschleunigt den Schritt ungemein. Und so pflüge und patsche ich wie ein D-Zug durch den nassen Wald, auf dessen Waldwegen sich bald tiefe Rinnsale und große Pfützen bilden.

Eine halbe Stunde später sehe ich zwei Wanderer in vollen Regenklamotten, die sich unter einem vergleichbaren Infotafel-Dächlein unterstellen wie ich eben. Einer hat gerade die Bierflasche angesetzt und ich seufze neidisch. Offensichtlich ist der trommelnde Regen aber laut genug, daß die beiden nicht mal mitbekommen, daß da gerade jemand an ihnen vorbeiläuft. 

Wenig später wird mir ganz blümerant: Eine Picknickbank mit Dach (die ich aus Dankbarkeit sofort fotografieren muß)! Ich setze mich glücklich für 20 Minuten ins Trockene, bis plötzlich mit einem Aufschrei des Unglaubens die drei wandernden Polen, die ich schon vorhin am See getroffen habe, an mir vorbeiziehen. Ob sie jetzt überrascht sind, ausgerechnet mich wieder zu treffen, ob sie nicht fassen können, schon wieder sich vor dem Regen unterstellende Memmen zu sehen oder ob sie sich ärgern, daß der einzige trockene Platz weit und breit besetzt ist, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Irgendwann wird mir langsam kalt und das Einzige, was dann hilft, ist: Weiterlaufen. 

Die letzte Stunde bis zu meiner heutigen Übernachtung ist nass und klamm. Trotzdem sind es schöne Kilometer - die anfängliche Abscheu darüber, patschnaß im Regen zu wandern, ist einer tiefen Entspannung gewichen. Wenn du erstmal naß bist, ist es irgendwann auch egal. Der Wald riecht nach Moos, aus den aufgestapelten Baumstämme am Wegesrand duftet das Harz und vor meinem geistigen Auge formt sich die Fata Morgana des Ankommens auf dem "Ułańska Zagroda", dem Ulanenhof, einem tollen Anwesen aus wuchtigen Holzhäusern am Waldrand. Wo der Rauch des Kaminfeuers aus dem Schornstein quillt, die heiße Dusche wartet und - noch mehr - die Aussicht auf den nächsten Pausentag, so daß genug Zeit sein wird, das nasse Zelt und alle nassen Klamotten zu trocknen.

Alle meine Träume werden wahr, nach der Dusche steht direkt das Abendessen auf dem Tisch. Meine Gastgeberin bietet mir an, nach dem Essen mit ins Dorf zum Einkaufen zu fahren, was perfekt passt. Otti hat mir ein Paket mit den Wanderkarten für die nächsten Wochen hierher geschickt und ich verbringe den Abend lesend auf einem großflächigen Sitzmöbel in einem toll hergerichteten Holzhaus und freue mich darauf, später in mein 140er-Bett zu versinken.

Es gibt nur wenige Dinge, die ich mir jetzt gerade noch wünschen wollte.

2 Kommentare:

  1. Lieber Kilian, du machst das ganz toll! Alles wird zum Schluss gut!

    Liebe Grüsse von
    Pan Lombragschinski

    AntwortenLöschen
  2. Respekt. Alleine im Wald schlafen, was für ein Horror.

    AntwortenLöschen