Sonntag, 22. Mai 2016

Tag 28: Und heute Abend kommt Besuch...

Tag 28/34: Dienstag, 17.05.2016
Olsztyn nach Barczewo
5 h / 24 km

Ugh, schon wieder Regen. Nass, kalt, nasskalt. Vom Hotel aus laufe ich in Richtung Bahnhof, vorbei an McDonalds, vorbei an furchtbaren Industriegebieten, und es regnet. An der Eisenbahnunterführung stehe ich ein paar Minuten und warte darauf, daß mal kein Auto kommt, um nicht von den meterbreiten Pfützen bzw. dem Durchgangsverkehr geduscht zu werden.

Da, wo Olsztyn am schönsten ist, zwischen KTM-Händler, Umspannwerk und Gebrauchtwagenplatz, biege ich nach links ab, weil meine Kartenapp mir das so sagt. Und tatsächlich: Es gibt einen kleinen Pfad zwischen all dem Gewerbe hindurch bis zum Rangierbahnhof, wo die PKP ihre ausrangierten Güterwagons abstellt. Immer hart an den Gleisen entlang, durch einen verwunschenen Park neben einem verfallenen Gutshaus, irgendwo nochmal über eine Bahnlinie, die Straße nach Nikielkowo entlang, bis ich endlich nach links in den Wald abbiegen darf.

Finally: Wieder das geliebte Standardprogramm. Sandige Wege durch den Wald, bellende Hunde in leeren Ferienhaus-Kolonien, Trampelpfade entlang der Stromleitung durch den Wald. Der Weg, dem ich ich folge, wird immer schmaler und dünner, am Ende des Waldes mündet er neben einer aufgegebenen und verwilderten Apfelplantage in ein endloses Feld.

Der Horizont gegenüber wird gesäumt von Gewächshäusern, deren Besitzer auch gleich noch die Felder weit und breit mit Zaun und Stacheldraht gesichert haben. Der in der Karte eingezeichnete Weg ist verbarrikadiert, also darf ich statt dessen querbeet irgendwelchen Traktorspuren folgen, die nach Norden führen (wo ich eigentlich gar nicht hin will). Ich laufe durch leeres Land, kein einziges Haus ist zu sehen, nur Wiese, in der Ferne ein See und ein paar Strommasten, die von einem unbekannten A zu einem unbekannten B führen.

Weg = Bildmitte
Der Weg wird immer schlammiger, auf der nächsten Wiese ist er nur noch eine gerade noch so erkennbare Fahrspur durch das hohe Gras. Aber wenn ich einfach nur lange genug geradeaus gehe, werde ich schon irgendwann wieder auf die Straße treffen. Am Ende sind meine Stiefel so vermatscht und ich so erschlagen, daß ich mich dazu entschließe, den restlichen Tag lieber auf der Straße zurück zu legen. Also trecke ich verbissen durch die nächsten zwei Dörfer, nutze eine der neu angelegten Parkbänke neben dem EU-Radweg zur kurzen Pause im Regen und weiter zwinge mich mit einem Seufzer zum Weiterlaufen.

Hinter Legajny treffe ich auf die Nationalstraße 16, ein Autobahnersatz Richtung Osten. Entsprechend viel Verkehr begleitet meine nächste Stunde, als ich auf einem matschigen Feldweg neben dem tobenden Verkehr Richtung Barczewo schlittere. Spaß macht der Tag schon lange nicht mehr, also möchte ich bittegerne nur noch ankommen.

Heute morgen habe ich im Hotel mal das Internet nach den Bahnverbindungen zurück nach Olsztyn gefragt. Heute gehen genau 3 Züge: 09:13, 14:58 und 19:42. Was für ein ausnehmend umfangreiches Verkehrsangebot. Kurz darauf habe ich allerdings herausgefunden, daß zwischen Barczewo und Olstyn eine Flotte von Marschrutkas pendelt, die offensichtlich einen Großteil des Verkehrs übernehmen. Das -- muß ich doch wohl ausprobieren.

Die Busse gehen ungefähr alle halbe Stunde, in Barczewo mache ich eine Punktlandung und erwische quasi noch im Laufen den nächsten Bus nach Olsztyn. Kommunikation schwierig, aber für 2,50 PLN (etwas unter 0,60 EUR) kriege ich eine Fahrkarte zurück ins 18 km entfernte Olsztyn. Der Bus ist ein altersschwacher Sprinter mit ungefähr 30 Sitzplätzen, Einstieg durch die Beifahrertür mit eingezogenem Kopf. Die Lüftung arbeitet verzweifelt gegen die notorisch beschlagenen Scheiben an und ich teile mir die Marschrutka mit alten Frauen, die vom Einkaufen kommen, Schülerinnen auf dem Weg nach Hause und allerlei sonstigem Volk. 

Der Bus spuckt mich in Olsztyn neben McDonalds wieder aus -- um uns herum stehen zig andere weiße Busse, die wie eine Horde Fliegen aus allen Richtungen abgefahren kommen und in alle Richtungen wieder verschwinden werden.

Schnell ab ins Hotel, ich muß mich noch kämmen. Heute Abend kommt für ein paar Tage Besuch zum Mitwandern. Nina hat sich angekündigt, hat in Berlin todesmutig das winzige Regionalflugzeug von Sprintair bestiegen, ist zum CIA-Flughafen Szymany geflogen und kommt später mit dem Zug in Olsztyn an.

Als wir abends noch zum Essen in die Altstadt runterlaufen, regnet es wieder zuverlässig. Eben nur das beste Wetter für den Gast...

Freitag, 20. Mai 2016

Tag 27: Zu Besuch in der Großstadt.

Tag 27/32: Sonntag, 15.05.2016
Biesal (Bahnhof) nach Olsztyn
6,5 h / 27 km

Es wird wirklich Zeit, daß ich aus Iława wegkomme. Meine Unterkunft der letzten vier Nächte geht mir langsam auf den Geist, den Weg zum Bahnhof bin ich auch schon viel zu oft gelaufen und dieses verweichlichte Wandern ohne viel Gepäck sollte auch schleunigst ein Ende haben.


Den letzten Punkt habe ich heute unfreiwillig übererfüllt. Gestern wollte ich eigentlich ein Paket mit abgewanderten Wanderkarten und anderen Dingen, die ich vorläufig für nutzlos erklärt habe, zurück in die Heimat schicken. Geschätzte 2,5 bis 3 kg Kram. Leider habe ich übersehen, daß in Polen offensichtlich am Samstag die Postfilialien geschlossen haben, daher sitze ich jetzt das ganze Pfingstwochenende auf meinem fertig gepackten Paket und werde es nicht los. Heute morgen habe ich es mir dann - zusätzlich zu meinem gesamten regulären Gepäck - oben auf den Rucksack geschnallt, um es vielleicht in Olsztyn zur Post bringen zu können. Mein Rucksack ist also heute ein absurd hoher Turm, der mich nochmal um eine Kopfhöhe überragt. Als ich auf dem Weg zum Bahnhof in einer Schaufensterscheibe mein Spiegelbild erahne, mag ich gar nicht richtig hingucken...

Auf dem Feld hinter Biesal ist es kalt und windig, auch wenn es optisch gar nicht danach aussieht. Die Temperaturen sind auf ca. 10° gefallen. Es ist zwar trocken, zumindest vorerst, aber wahrscheinlich nur deswegen, weil die Wind die deutlich drohenden Wolkenbänke viel zu schnell weitertreibt. Immerhin: Etwas Sonne! Macht doch gleich viel einen viel freundlicheren Eindruck als all die Stunden Regen gestern. Der Wind zaust die Pflanzen auf den Feldern, der Waldrand rauscht und biegt sich. Ich ziehe den Reißverschluß meiner Jacke ganz zu, stecke die Hände in die Taschen und halte die Nase in den Wind.

Im Wald kommt mir ein auf einem Rumpelpfad ein Auto mit einem Renterehepaar entgegen und weil ich ein Guter bin, räume ich mal eben die beiden vor mir liegenden armdicken Äste vom Weg, die letzte Nacht im Sturm gefällt wurden. Omi und Opi freuen sich und winken freundlich, ich grinse - und der Vormittag ist gerettet. Für mich, weil meine gute Tat für heute abgehakt ist; für die beiden, weil sie nicht anhalten und aussteigen müssen.  
Kurz darauf biege ich nach rechts auf die Forststraße ab, auf der ich die nächsten 2 h einfach nur noch geradeaus laufen muß. Radfahrer gibt es dort übrigens in Hülle und Fülle. Beim Ersten erschrecke ich mich noch, aber das legt sich schnell.

An der Landesstraße 16 gerate ich schon wieder in die nächste Baustelle. Durch den Wald planierte Sandmagristralen, halbfertig. Wenigstens ist heute Sonntag und daher keine Bauarbeiter zu sehen, die mich anmaulen könnten, als ich versuche, das Tor im Zaun aufzufrickeln, um wieder aus dem abgesperrten Baustellenbereich heraus zu kommen. Passenderweise beginnt auch gleich der nächste Schauer, so daß ich erstmal die komplette Regenmontur anlege und mich dann todesmutig in den Gegenverkehr auf der 16 stürze. 

Ein bißchen sieht die Schnellstraße danach aus, als wäre sie eigentlich für Fußgänger gesperrt, aber jetzt isses zu spät. Links und rechts der Straße stehen Wildzäune, also bleibt sowieso nur die Flucht nach vorne. Nur noch 1 km bis zu Abzweigung. Kurz davor eine Bushaltestelle, bei der ein offizieller Fußweg neben der Straße in Richtung des nächsten Dorfes beginnt. Und wie das Glück so will, habe ich gerade die ersten 10 m des Fußweges betreten, als ein Polizeiauto mit zwei sehr interessiert guckenden Beamten aufreizend langsam an mir vorbeifährt und sich die Kontrolle dann doch spart, weil dieses Bündel aus turmhohem Rucksack und knallroter Plastikhülle obendrüber ja auf einem regulären Fußweg unterwegs ist. Eigentlich ein bißchen schade, denn ein schickes Kontrollfoto mit der örtlichen Policja fehlt mir noch.

Aber jetzt wird alles gut. Die Sonne kommt wieder raus, es gibt einen schönen Räuberweg direkt am Seeufer entlang, mit Abenteuerflair und Rumpelabschnitten. Ich finde viele schöne theoretische Plätze zum Zelten, aber die Nähe zur Großstadt macht sich bemerkbar. Zurückgelassener Müll von einer lustigen Nacht am See markiert zuverlässig jeden einigermaßen netten Ort am Wasser.

Eine Stunde später an der frisch aus dem Boden gestampften Marina von Olsztyn breche ich aus dem Wald und treffe wieder auf Zivilisation, Spaziergänger, Menschen mit Hunden und Kindern. Außerdem ist ein alter Freund, der Wind, wieder da. Also mal lieber eben die Jacke anzie -- scheiße! Meine Kamera ist weg!
Mir entfährt ein lautes "Fuck!" statt des landesüblichen "Kurwa!", ich taste nochmal schnell alle möglichen Taschen ab, in denen die Kamera unüblicherweise gelandet sein könnte, aber dann weiß ich plötzlich genau, wo ich sie verloren haben muß. Vor einer halben Stunde habe ich auf dem kleinen Rumpelweg meinen Rucksack abgesetzt, um einen Zweig, der sich auf meinem Rücken unter das Hemd gemogelt hatte, wieder raus zu operieren. Die Kameratasche ist am Bauchgut des Rucksacks festgemacht und in den letzten Tagen schon mehrfach von alleine aufgegangen, wenn ich beim Absetzen des Rucksacks zu schwungvoll war. Shitshitshit. Also wieder marschmarsch und Vollgas den selben Weg zurück, bevor irgendjemand die Kamera findet. Sind ja wahrhaftig genug Leute unterwegs heute...

(Das letzte Foto, bevor...)
Zehn Minuten später überholt mich - vrooom! - ein Mountainbikefahrer. Ich will ihm schon zurufen, daß er weiter vorne vorsichtig sein soll, damit er meine verlorere Kamera nicht plattfährt. Dann schießt mir durch den Kopf, daß er durch diese Information vielleicht auch erst auf die Kamera aufmerksam werden könnte und sich damit möglicherweise aus dem Staub machen würde. Während ich noch abwäge, welches Risiko mir größer erscheint, ist er auch schon wieder außer Rufweite. Hrmpf, so kann man auch Entscheidungen treffen... Ich keuche also mit Karacho den Weg wieder zurück und scanne dabei. Links, rechts. Nix. Nix. Nix. Links, rechts. Hier müßte es gewesen sein. Nix. Da hinten auch nicht. Dann stehe ich an einem Punkt, an den ich mich ganz genau erinnere, weil ich hier zuletzt die Kamera für ein Foto vom See in der Hand hatte. So, ab hier jetzt nochmal in Ruhe rückwärts. Und zack, 10 Meter weiter liegt das gute Stück neben dem Weg in der Flora. Yeah! Eine Stunde Weg umsonst hingelegt, dafür keine 200 EUR-Kamera abgeschrieben.


Olsztyn ist dann doch ein mittelgroßer Kulturschock für mich. 170.000 Einwohner. Großstadtflair, Menschen auf Skateboards, ein Auto mit Berliner Kennzeichen, Straßenbahnen. Keine Skleps weit und breit, dafür Optiker und Notare. Mein Hotel ist von außen ein grottenhäßlicher Betonkasten aus den 80er Jahren, von innen allerdings sehr nett. Für 41 EUR die Nacht gibt's hier internationalen Standard und - dieser Moment wird mir noch lange heiß im Herzen brennen - als ich beim Check-In nach einem Zimmer mit Badewanne frage, zwinkert mir der Rezeptionsdrachen unerwartet freundlich zu und nickt verschwörerisch. Die Frage, ob ich einen Parkplatz in der Hotelgarage benötige, verneine ich höflich und schmunzelnd. Statt dessen sinke ich nach diesem kalten und windigen Tag mit einem Seufzer des Glücks in eine dampfende Badewanne und lasse mich gefühlte Ewigkeiten im heißen Wasser gar kochen. So lange, bis meine Zehen aussehen wie kleine leuchtend rote Eisberge, die ein wenig aus dem Wasser herauslugen.

Oh Badewanne, du Krone der Zivilisation!

Donnerstag, 19. Mai 2016

Tag 26: Dauerregen nervt!

Tag 26/31: Samstag, 14.05.2016
Samborowo (Bahnhof) nach Biesal (Bahnhof)
8 h / 34 km

Heute wird's logistisch etwas kompliziert. Der erste Tag des langen Pfingstwochenendes ist offensichtlich kein guter Tag, um mit dem Zug zu reisen. Um wieder zum Bahnhof Samborowo zu kommen, wo ich gestern meine Etappe beendet habe, gibt es zwei mögliche Züge: 08:43 oder 14:49. Der eine ist ekelig früh, der andere so spät, daß der Tag schon fast wieder vorbei wäre. Also entscheidet sich der pflichtbewußte Wanderer widerwillig für einen frühen Start.

Letzte Nacht war Party in der Taverne, und ich war nicht eingeladen. Mein Zimmer lag dummerweise genau über der Tanzfläche und ich konnte locker einige der Klassiker mitsingen. Gegen Mitternacht bin ich mal runtergetapst und habe vorsichtig gefragt, wie lang die Party wohl noch läuft und zack! - hatte ich den Schlüssel für ein anderes, deutlich ruhigeres Zimmer in der Hand. Super! 

Trotzdem fällt mir das Aufstehen schwer. Viel schwerer als sonst. Daß ich zu wenig geschlafen habe, ist nur das kleinere Übel. Viel ätzender: Draußen regnet es ordentlich, hat bereits die ganze Nacht durchgeregnet und soll heute auch den restlichen Tag weiterregnen. Ein sehr starker Schweinehund in mir wünscht sich eigentlich nichts sehnlicher, als im Bett liegenbleiben zu dürfen und dem Regen zuzuhören. Aber die Vernunft siegt. Ich stehe gegen 06:30 auf, gege um 07:30 frühstücken und breche um 08:15 zum Bahnhof auf. Auf dem Weg dorthin werde ich schonmal klatschnaß, es regnet wie aus Eimern. Alleine an einem Samstagmorgen im Regen in einer Kleinstadt in Polen auf dem Bahnsteig sitzen -- was für ein Traumurlaub.

Als der Zug einfährt, hat der Regen aufgehört und Hoffnung keimt auf. In der alten Elektritschka bollert die Heizung gegen die feuchte Morgenkälte an, aber die Scheiben sind beschlagen und der Blick nach draußen bleibt trostlos. 25 Kilometer weiter in Samborowo regnet es schon wieder, arg. Ich drücke mich noch 20 min unter dem Vordach der alten Güterhalle herum, ziehe die Regenhülle über den Rucksack, bereite mir Musik für die Ohren vor, seufze ein wenig herum und irgendwann hilft alles nix und ich stapfe mißmutig los. Raus in den Regen. Eigentlich wollte ich heute bittegerne Pausentag machen, so eine Scheiße...

Ich habe mir für heute viel Strecke vorgenommen, um die morgige Tour zu kurz wie möglich zu halten. Heute der letzte Tag, an dem ich mit leichtem Gepäck unterwegs bin; daher ist jeder Kilometer, den ich schon heute statt morgen laufe, in der Summe etwas weniger anstrengend. Also Kragen hochgeklappt, Foo Fighter angeworfen und vorwärts. Vorwärts durch das erste Dorf, in dem ich prompt falsch abbiege und unter den hämischen Blicken der biertrinkenden Sklep-Mannschaft nochmal eine Ehrenrunde um die Kirche drehe. Vorwärts durch den immerwährenden Regen, dessen Toleranzschwelle sich bei mir inzwischen soweit verschoben hat, daß ich leichten Dauerregen einfach offensiv ignoriere und als Nicht-Regen werte. Sonst wäre mir wahrscheinlich der Spaß an diesem Tag längst vollkommen vergangen. Vorwärts über vermatschte Wege, die im Nichts enden, weil der Bauer sie einfach umgepflügt hat und dort statt dessen lieber Getreide anbaut. Vorwärts und mitten rein in die nächste Großbaustelle, Ostróda baut an einer mehrspurigen Umgehungsstraße -- und ich mal wieder mittendrin.

Der rechts abgebildete Feldweg, der auf der Karte noch so beschaulich aussah und eigentlich nur ein Radweg sein will, ist jetzt die Einflugschneise für die Betonmischer, die mit Vollgas durch den Hohlweg brettern. Mehrfach muß ich mal eben die Böschung hochklettern, um einen LKW vorbeizulassen, die Fahrer scheinen wenig begeistert über den Fußgänger vor ihnen zu sein. Aber was soll ich den machen, zur Hölle?

Das kleine Flußtal weiter im Norden ist das Nadelöhr des heutigen Tages, wenn ich da aus irgendwelchen Gründen nicht durchkommen sollte (z.B.: Großbaustelle?) kann ich mich schonmal auf mehrere Kilometer Umweg einstellen. Ich biege um die Ecke und stehe vor dem Rohbau der schönen neuen Brücke, überall Schilder mit "Uwaga!". Ich studiere das Arbeitssicherheits-Schild, überprüfe meine persönliche Schutzausrüstung (Stiefel? Check! Brille? Check! Kopfbedeckung? Mütze, check! Warnkleidung? Ähm, rote Rucksack-Regenhülle, check!) und entscheide, daß ich baustellentauglich bin. Also Hände ich die Hosentaschen und einfach hindurch geschlendert, ich kann ja Gott sei Dank kein Polnisch. 

Brauche ich auch nicht, denn keiner nimmt Notiz von mir. So kann ich mich schön weiter durchs nächste Wohngebiet mogeln, als kleines Geschenk des Tages hört der Regen zwischendurch mal kurz auf. Zum Ausgleich liegen jetzt zwei Kilometer auf dem Seitenstreifen der Europastraße 77 vor mir, es gibt einfach keinen anderen passenden Weg. Mit einem Auge immer im Gegenverkehr, ganz links am Rand, durch die nächste Baustelle. Mann, was freue ich mich darauf, bald in dem Wald abtauchen zu können. Hinter Idzbark ist es soweit, ich kann die ganzen Dörfer und Straßen hinter mir lassen, die LKWs, die kläffenden Hofhunde und die wachsam wackelnden Gardinen in den Fenstern der Häuser, wenn ich im Regen daran vorbeiziehe. Ich würde jetzt auch gerne vor dem Kamin sitzen, in eine Decke eingewickelt, mit einer Kanne Tee vor mir.

Statt dessen sitze eine Stunde später im Wald auf einem nassen Baumstamm, der Regen hat wieder angefangen, und starre etwas mißmutig ins Leere. Ich habe mich zu dieser Pause gezwungen, um mich nach 4 Stunden überhaupt mal kurz hinzusetzen, einen Schluck zu trinken und die Ansammlung von Sand und Geröll aus meinen Schuhen zu leeren. Knurrig. Das ist das Wort, das wohl am besten beschreibt, in welcher Laune ich den Tag absolviere.

Im Wald läuft plötzlich ein Trupp Frischlinge über den Forstweg, ca. 20 m vor mir. "Ach wie süß!", kann ich gerade noch denken. Und "Die sind aber klein, so ungefähr DinA4-Format...", da kommt schon die Mutter Wildschwein hinterher. Und DAS ist verdammt nochmal nicht klein. Eigentlich sogar größer als ich ein Wildschwein in Erinnerung hatte und in jedem Fall deutlich größer, als mir in diesem Moment lieb ist. Die Muttersau bleibt auf dem Forstweg stehen und schaut mich an, deckt dabei den Rückzug ihrer Kleinen. Ich friere förmlich im Laufen ein und kann mich vor Überraschung nicht bewegen und schon ist der Spuk auch wieder vorbei und die Bache verschwindet ebenfalls im Unterholz. Um die Situation ein bißchen aufzulockern (aber vor allem, um gefühlsmäßig wieder die Oberhand zu gewinnen), klatsche und rufe ich noch ein bißchen, bevor ich weitergehe. Und siehe da, einige Frischlinge hatten sich noch direkt neben dem Forstweg versteckt und verschwinden erst jetzt im dichten Wald. Ich warte noch eine Minute, bis Familie Wildschwein etwas Land gewinnen konnte und ziehe weiter meines Weges. Jetzt kann ich auch das seltsame Geräusch zwischen Bellen und Grunzen einordnen, das mich während meiner letzten Zeltnacht auf dem Waldparkplatz so erschrocken hat: Die Bache eben hörte sich sehr ähnlich an. Es waren also doch Wildschweine...

Der Weg durch den Wald ist trotz Regen relativ entspannt. Bei meiner zweiten kurzen Pause an diesem Tag ziehe ich Stiefel und Socken aus und stelle die Füße ins herbstnasse Laub -- was für eine Wohltat!

Das letzte Dorf des Tages serviert als Nachtisch nachlassenden Regen, einen coolen alten Transporter mir unbekannter Bauart und eine Fast-Punktlandung am Bahnhof, so daß ich nur eine knappe halbe Stunde auf meinen Zug nach Iława warten muß. Ich zieh die total durchweichte Jacke und mein Hemd aus und tausche sie gegen ein einigermaßen trockenes Oberteil, trotzdem wird mir langsam saukalt, wie ich da im Wind auf dem Bahnsteig rumstehe.

Der Zug hat eine Viertelstunde Verspätung, auf der Fahrt sitze ich teilweise zitternd und zähneklappernd auf meiner Bank und freue mich unglaublich darauf, aus den insgesamt sehr nassen Klamotten rauszukommen. Irgendwo auf der Strecke stehen wir dann nochmal außerplanmäßig eine zusätzliche Viertelstunde rum und als der Zug endlich in Iława einfährt, ist mir so kalt, daß ich schnellstens Bewegung brauche. Den Weg zurück zur Taverna absolviere ich bewußt in Rekordzeit, um etwas Wärme in den Körper zu bekommen. Und wieder gönne ich mir die beste Belohnung, die es nach einem kalten regnerischen Wandertag gibt: kochend heiß Duschen, bis der Arzt kommt. Danach hänge ich brav alle Klamotten und den Rucksack quer durch das Zimmer an allen möglichen Ecken und Kanten auf. Und um möglichst alles bis morgen Früh trocken zu bekommen, starte ich ein ausgeklügeltes Heiz- und Lüftballett, das den ganzen restlichen Abend in Anspruch nehmen wird. Abendessen fällt aus, ich gehe heute ganz bestimmt nicht mehr raus...

Mittwoch, 18. Mai 2016

Tag 25: Asphaltschrubben.

Tag 25/30: Freitag, 13.05.2016
Iława - Samborowo (Bahnhof)
6 h / 27 km

Es ist kühl geworden im Vergleich zu den vergangenen Tagen. Als ich morgens aus der Taverne trete, setze ich erstmal den Rucksack ab und ziehe mir flott eine Jacke über. DAS hatten wir ja lange nicht...
Raus aus der Stadt heißt in Iława dasselbe wie immer. Durch das Zentrum, durch die Randgebiete mit den sozialistischen Wohnblöcken, entlang der Siedlungsstraßen, die von den neuen Einfamilienhäusern gesäumt werden. Das Rad- und Fußweg neben der Straße hört dank EU-Cofinanzierung nicht am Ortsrand auf, sondern läuft immer weiter. Offensichtlich bis hinter den Horizont und weiter in alle Ewigkeit. Die Stadt habe ich längst hinter mir gelassen, die Häuser links und rechts der Straße noch lange nicht. Das Siedlungsgebiet zieht sich Kilometer um Kilometer am See entlang, gefühlt jedes 5. Haus steht zum Verkauf. 

Mit zunehmendem Abstand zu Iława werden die Häuser neuer und protziger. Die Statussymbole der Häuser auf der Seeseite heißen: gepflasterte Vorfahrt mit Springbrunnen in der Mitte, separates Garagengebäude, Bootshaus am Seeufer. Der Vogel wird am Ende von einem James-Bond-mäßigen Mansion abgeschossen, das komplett in den Hang hineingebaut wurde. Von der Straße aus ist eigentlich nur das Dach zu sehen, das mit Schieferplatten verkleidet ist. Mehr als die Tiefgarage, die Zaunanlage und die Videoüberwachung sind von außen nicht zu sehen, aber ich kann mir ungefähr vorstellen, was da für ein Klotz darunter sitzt. Da beruhigt es mich ungemein, daß nur 100 Meter weiter das Siedlungsgebiet zu Ende ist und statt dessen leere und halbverwilderte Wiesengrundstücke übernehmen. Keine zwei Minuten später sehe ich schon wieder ein romantisches Plumpsklo, als maximales Gegenstück zu den Immobilien, an denen ich während der letzten Stunde vorbeigelaufen bin. Aber wer weiß, wie lange noch...

Erst nach gut 10 km kann ich endlich von der Straße auf einen sandigen Feldweg abbiegen, wenn auch nur für eine kurze Viertelstunde. Der Spaß an diesem Tag ist mir inzwischen etwas verloren gegangen, so daß ich inzwischen schon in Betracht ziehe, einfach wild irgendwo abzubiegen, um endlich wieder Wald und Waldwege um mich zu haben. Statt dessen gibt es die Geflügelfarm Sektor 2, die einen schmierig-süßlichen Geruch verbreitet, den ich den restlichen Tag nicht mehr aus der Nase bekommen werde. Vielleicht auch deswegen, weil an der selben Straße auch noch die Sekoren 4, 3, 1 und 5 liegen. Würg.

Im letzten Dorf vor dem Wald habe ich dermaßen die Schnauze voll, daß ich kurz versucht bin, zum Bahnhof nach Pikus abzubiegen. Sind nur 2 km, dann wäre diesem vermurksten Tag endlich ein Ende gesetzt. Aber die Strecke wird dadurch ja nicht weniger und auf der Karte ist tröstlicherweise zu erkennen, daß ich kurz nach der Kreuzung für den Rest der Etappe im Wald laufen kann.

Und tatsächlich: Sobald ich Bäume um mich herum habe, entspannt sich meine Laune. Der Asphalt macht wieder einem sandigen Waldweg Platz, der Regen ist auch nur eine kleine Husche und sorgt eher dafür, daß das Grün des Waldes noch besser zur Geltung kommt. Ich habe die Hände in den Hosentaschen und bin zufrieden. So zufrieden, daß mich noch nicht mal stört, daß mitten im Wald dann doch wieder der Asphalt beginnt.

Kurz vor Samborowo stolpere ich am Waldrand über zwei alte Backstein-Forts mit tonnenweise Schießscharten und Panzerkuppel obendrauf. Einmal links und einmal rechts der Bahnlinie, strategisch günstig hinter dem Fluß platziert. Offenbar sollten diese Bauten zu ihrer Zeit die Eisenbahnlinie schützen. Der Eingang einer der Ruinen steht offen, aber nach 1,5 mal abbiegen ist es schon so stockfinster, daß es mir echt zu unheimlich wird.

Meinen angepeilten Zug zurück nach Iława habe ich vermutlich um eine Viertelstunde verpasst, der Nächste geht in etwas mehr als einer Stunde. Auf den letzten paar hundert Metern bis zum Bahnhof sehe ich aus der Ferne, daß mein Zug offensichtlich Verspätung hatte, aber nur etwas mehr als 10 Minuten, so daß ich ihm kurz vor dem Bahnhof doch noch zum Abschied zuwinken kann.

Also sitze ich noch eine Stunde neben einem schönen alten verfallenen Backsteinbahnhof herum, betrachte die aufziehenden Gewitterwolken im Westen und hoffe inständig, daß es jetzt nicht nochmal anfängt zu regnen. Kalt genug ist mir vom Rumsitzen sowieso schon...

Wenn ich den Tag Revue passieren lasse, fällt mir leider nur das Wort "öde" ein. Vielleicht gibt es solche Tage, an denen die Begeisterung fehlt und ich einfach nur lustlos weiterstapfe. Andererseits habe ich die Etappe abgehakt, morgen kann es weitergehen -- mit der Chance auf einen schöneren Tag, den ich vielleicht wieder mehr genießen kann.

Dienstag, 17. Mai 2016

Tag 24: Glücklich im Regen.

Tag 24/29: Donnerstag, 12.05.2016
Prabuty (Bahnhof) nach Iława
9 h / 35 km

Ich sitze auf dem Trockenen. In Iława habe ich auf dem Weg zum Bahnhof tatsächlich keinen einzigen Laden gefunden, um mir was zu Trinken für den Tag einzukaufen. Das Internet versprach eine Biedronka, aber die wurde offenbar in ein asiatisches Handelszentrum umfunktioniert. No joy... Aber ich muß ja sowieso nochmal durch Prabuty durch.
Am Bahnhof quatscht mit ein junger Typ nach Kohle an, nachdem alle anwesenden Einheimischen schon abgewunken haben. Natürlich bekommt er mit, daß ich Tourist bin und bleibt daher hartnäckig. Freundlich ausgedrückt wirkt er, als ob er schon viel Geschirr in seinem Leben zerschlagen hat und ihm daher jetzt ein paar Tassen fehlen. Unfreundlich ausgedrückt ist er deutlich druff, bleibt hartnäckig, so daß ich mich fast verfolgt fühle und als er mir inzwischen ein paar Minuten hinterher gelaufen ist, warte ich darauf, daß andere Leute in der Nähe sind und werde laut. Das zieht irgendwann und er macht nen Abflug.

Vor mir liegt schon wieder ein Stück von diesem grünen Wanderweg von gestern, den ich inzwischen mit größter Vorsicht genieße. Ein kleines Stück durch den Wald folge ich ihm noch, dann entscheide ich mich für die sichere Bank der Forstwege und kleinen Asphaltstraßen. Schließlich habe ich heute eine ordentliche Strecke vor mir, so daß ich keine Zeit damit verlieren will, im Unterholz rumzukraxeln.

Und so passiert der Großteil des Tages in der Sonne, zwischen Feldern, auf kleinen holperigen Straßen, die zwei Dörfer oder namenlose Ansammlungen von Häusern verbinden. Ich treffe Arbeitskolonnen, die die verwucherten Äste einer Allee bändigen, werde von Gasflaschen-Lieferwagen überholt (die alle fahren wie die Henker) und stapfe ganz allgemein einfach nur weg, was die Landschaft an Weg für mich bereit hält. Eigentlich ein Tag zum Abhaken, richtig Spaß macht das nicht. Selbst die Tatsache, daß mein Rucksack heute nur die Hälfte wiegt, bringt mich irgendwie nicht zum Fliegen. Der ganze Tag fühlt sich so an, als würde ich ihn nur laufen, um die Lücke von A nach B zu schließen. Und irgendwie ist es ja auch so.

Immerhin, in Babiety gibt es einen schönes Dorfpanorama mit (von links nach rechts) Rapsfeld, Sklep und Feuerwehr-Geräthaus. Der Dreiklang der Provinz...

Heute sehne ich mich besonders nach der in Deutschland überall vorhandenen Landschaftsmöblierung. Zuhause gibt's immer irgendwo ne Bank zum Sitzen. In Polen eher nicht. Meine klassischen Rastplätze sind Holzstapel im Wald oder irgendwelche großen Findlinge am Wegesrand. Aber hier auf diesen kleinen Dorfstraßen? Da könnte ich mich neben den Asphalt aufs Bankett setzen, dann wäre ich schön Kopfhöhe mit dem Auspuff der rasenden Gasflaschen-Lieferwagen...


Hinter Zabrowo wird's dann überraschenderweise doch noch richtig schön. Es gibt sanfte Hügel mit Rapsfeldern und - huch! - der grüne Wanderweg ist wieder da. 

Ich bin mißtrauisch, aber irgendwie weiß der Grüne halt doch besser als ich, wo es lang geht. Obwohl ich ihn die letzten zwei Tage gescheut und geschmäht habe, führt er mich sicher durch das Sumpfgebiet, durch versteppte Wiesen zwischen Felder und dem See entlang, über brachliegende Felder, auf denen noch das Stroh vom letzten Jahr liegt.

Die Gewitterwolken des Nachmittags holen mich langsam ein. Den ganzen Tag lang haben sie sich offensichtlich verabredet, um ringsum am Horizont immer näher zu kriechen, während über mir eigentlich noch schönes Wetter war. Jetzt ist es offensichtlich, daß es demnächst krachen wird. Als ich gerade durch Kamionka laufe, höre ich ein komisches Knistern, das von dem Haus neben mir zu kommen scheint. Der Schäferhund, der mich gerade anbellt, scheint auch irritiert zu sein, und hält die Schnauze. Und dann hört man den Regen für einen Moment erst nur auf den Dächern der Häuser, bevor er auch unten am Boden richtig loslegt.

Mir egal! Alles, was nicht naß werden darf, habe ich sowieso "zuhause" in Iława gelassen und ICH darf heute ruhig naß werden. Bis zum Ziel ist es nur noch eine Stunde, trotzdem gebe ich Gas, denn ich möchte zumindest vom Feld runter und im Wald sein, bevor das Gewitter richtig losgeht. Es regnet heftig, über mir donnert es im Minutentakt -- Blitze sehe ich aber keine. Innerhalb von 10 Minuten ist die Welt klatschnaß, mir läuft das Wasser schon an den Armen herunter, es ist mit einem Schlag gefühlt 10 Grad kälter geworden ...


...aber ich bin glücklich. Der Wald riecht unglaublich intensiv nach Boden, Erde, Blättern und allem, was sonst noch darin ist. Die Luft ist wie gewaschen. Das Grün der Bäume explodiert förmlich und die Farbpalette ist um unzählige weitere Grüntöne erweitert. Ich laufe ganz alleine durch den Wald und höre nur das Prasseln des Regens und das Geräusch meiner Schritte in den Pfützen und habe dabei ein fettes Grinsen auf dem Gesicht. Obwohl ich keine Regenjacke trafge und daher klatschnaß bin, friere ich nicht. Heute darf ich naß werden, heute habe ich BOCK auf naß werden.

Nach einer guten halben Stunde ist der Donner weitergezogen und der Spuk vorbei, an der Landstraße fröstelt es mich dann doch ein wenig und ich ziehe mir was Warmes über. Ich freue mich auf eine heiße Dusche und kurz bevor ich in meiner Taverne einlaufe, beginnt es gerade wieder zu regnen. Alle Stadtbewohner huschen ins Trockene, ich hingegen zügele meine Schritte und genieße die letzten paar Meter. Der freundliche Kellner von gestern Abend hockt rauchend unter dem Vordach und muß leicht grinsen, als ich klatschnaß mit den Händen in den Hosentaschen angeschlendert komme. Er drückt mir das Paket aus der Heimat in die Hand, das Otti vor ein paar Tagen losgeschickt hat und ich muß kurz darüber schmunzeln, wie aus einem doofen "Erledigungstag" am Ende doch noch ein klasse Tag geworden ist.

Montag, 16. Mai 2016

Tag 23: Murks, Murks, Murks!

Tag 23/28: Mittwoch, 11.05.2016
Kwidzyn nach Prabuty (Bahnhof)
6,5 h / 27 km 

Bis zu dem Moment, in dem ich den Schlüssel zu meinem Apartment in den verabredeten Briefkasten werfe, ist alles gut. Danach beginnt der Murks.

Erstmal zum Start des Tages quer durch die Stadt, ich lege die Sonnenbrille an, schalte auf Durchzug und laufe die Warszawska raus. Schickes Rathaus, ansonsten Plattenbauten, Baumärkte, Vormittagsverkehr. An sich nichts Ungewöhnliches, aber irgendwie will es mir heute einfach nicht schmecken.


Gestern Abend beim Kartenstudium habe ich mich entschieden, den grün markierten Wanderweg einzuschlagen, der eigentlich direkt bis Prabuty führen sollte. Mich hätte vielleicht stutzig machen sollen, daß er auf der Karte auf weiten Strecken einfach so quer durch den Wald gezeichnet war, statt wie sonst irgendwelchen Feldwegen zu folgen. "Am Ortsausgang nach dem Bach links abbiegen!", habe ich mir gemerkt. Mache ich auch. Von der Wegmarkierung nix zu sehen. Ok, vielleicht hat dieses neue Gewerbegebiet hier alles umgepflügt, wäre ja nicht das erste Mal. Aber die neuen Straßen laufen alle in Richtungen, in die ich nicht will. Also rette ich mich mit Hilfe einer halb abgerissenen Brücke über die Eisenbahnlinie, um wenigstens die richtige Richtung einzuschlagen. Das kann ja ein heiterer Tag werden: Noch keine Stunde unterwegs, und schon am improvisieren.

Im Wald überrasche ich einen jungen Fitness-Freak beim Abstecken eines Lauf-/Workout-/Wasauchimmer-Parcours, es ist ihm irgendwie peinlich, daß ich da plötzlich angewandert komme und auf einmal ist er ganz doll damit beschäftigt, an dem Stöckchen rumzubasteln, das er eben als dem Unterholz gezogen hat. Er wartet noch ein paar Minuten, bis ich weiter weg bin -- aber kurz bevor ich um die nächste Kurve biege, muß ich mich einfach nochmal umdrehen. Und da hechtet er schon auf dem Sandweg von Stöckchen A zu Stöcken B und wieder zurück...

Er weiß wenigstens, was er tut. Ich weiß das heute nicht so genau. Es ist einer dieser Tage, an dem Karten und Realität so überhaupt nicht zueinander passen. Den grünen Wanderweg habe ich immer noch nicht gefunden, statt dessen wurschtele ich mich auf Forststraßen durch den Wald, wenigstens stimmt die Richtung so halbwegs. Eine halbe Stunde später starte ich nochmal einen Abstecher nach Norden zum Fluß, vielleicht finde ich ja dort den Wanderweg wieder -- Fehlanzeige. Allerdings gibt es hier einen Radweg, auch halbwegs in die richtige Richtung. Dann, plötzlich, die grüne Markierung. Die hier nach links abbiegt. Hä? Ok, pfeif drauf, weiter geradeaus.

Den Sklep in Ośno lasse ich rechts liegen, mein Rucksack ist noch prall gefüllt mit Getränken. Großmutter sitzt im Garten ihres polnisch-sozialistischen Reihenhauses auf der Gartenschaukel im Mittagsschatten und schaukelt leise. Schräg gegenüber steht ein alter Golf mit laufendem Motor und offener Fahrertür und wartet darauf, daß sein Fahrer zurück kommt. Die Bordsteine sind wieder weiß gestrichen, der Wind macht die Mittagshitze sehr erträglich und ich hätte Lust, mich irgendwo in den Schatten zu legen. Aber wo? Hier neben dem sandigen Feldweg, auf dem ich eben von einem vorbeifahrenden Auto schon total eingestaubt wurde?

Bei den nächsten Häusern kommt mir plötzlich wieder der grüne Wanderweg "entgegen". Wie bitte? Ok, das könnte nützlich sein. Ich war mir nämlich nicht ganz sicher, ob es hier hinter den Häusern wirklich eine Brücke über den Bach gibt. Wenn mir der Wanderweg hier entgegen kommt, wahrscheinlich schon. Nach ein paar hundert Metern Unterholz stehe ich vor der schönsten "Über jedes Bacherl geht a Brückerl"-Situation seit Wochen, balanciere über das morsche Flickwerk aus Holz und hoffe, daß das Ding meine 70 kg Gesamtgewicht (incl. Rucksack...) auch trägt. "Hier könnte man doch eigentlich auch mal seine Füße ins Wasser hängen?" denke ich mal eben, bleibe stehen - und verwerfe die Idee sofort wieder. Denn dieser eine Moment des Stehenbleibens und dumm Guckens hat ausgereicht, um 17 Mücken an mir kleben zu lassen. Och, dann gehe ich vielleicht doch noch ein Stück weiter.

Die Wanderkarte ist heute mehr oder weniger nutzlos, der grüne Weg zweigt schon wieder irgendwo ab, wo ich ihn niemals vermutet hätte. Eigentlich folge ich die meiste Zeit mehr oder weniger einfach irgendwelchen Wegen, die im Wald halt zu finden sind, überprüfe auf der Kartenapp von Zeit zu Zeit die Richtung und irgendwie wird's schon.

Der nächste markante Wegpunkt ist die Bahnlinie, die es zu überqueren gilt. Eine breite Forststraße führt schonmal in die richtige Richtung, der grüne Wanderweg kommt auch mit, aber dann stehe ich vor der nächsten halb abgerissenen Brücke über die tief in den Hügel eingeschnittenen Gleise. Diesmal aber mit 3-Meter-Maschendrahtzaun-Sicherung auf beiden Seiten. Was soll denn DER Mist? Netterweise hat schon jemand für mich den Zaun auf beiden Seiten aufgeschnitten, so daß ich es mir sparen kann, 2 Bahndämme samt Gräben und Unterholz zu durchkämpfen.

Theoretisch muß ich jetzt einfach nur links abbiegen und 5 km direkt parallel zur Bahnlinie laufen, was ich in Ermangelung anderer passender Wege auch mache. Spaß ist das allerdings nicht. Da, wo früher sicherlich mal ein parallel verlaufender Weg war, wurde fleißig gerodet und mit der Fräse alles um/durch/zu und weggefräst. Jetzt habe ich also die Wahl, mich a) die nächsten Kilometer durchs Unterholz zu schlagen oder b) auf der links abgebildeten Schneise weiterzulaufen. Sieht ja erstmal ganz entspannt aus, wa? Besteht aber aus faustgroßen Brocken Erde und Matsch, die die Sonne der letzten Tage bockelhart gegrillt hat. Unter jedem Schritt knurpst und staubt es und fünfhundert Meter kosten soviel Kraft wie ein Kilometer auf einem sandigen Feldweg. Aber im Süden gibt's nur Sumpf, im Norden nur Wege, die nach Norden führen -- und ich will eigentlich nach Osten. Also kämpfe ich mich murrend weiter und verfluche dabei den grünen Wanderweg.

Eine gute Stunde später erspähe ich auf der anderen Seite der Gleise eine Kopfsteinpflasterstraße, überquere die Gleise, trinke vor Glück erstmal meine letzten Getränke aus und wanke über das Katzenkopfpflaster weiter.

Die restlichen Kilometer sind ein wenig reizvoller Spaziergang entlang der Straße. Ich beäuge kritisch die Wolkensituation, für den Nachmittag sind Gewitter angesagt und passenderweise haben sich in den letzten Stunden entsprechende Wolkenberge im Süden aufgetürmt hat. Durch Prabuty laufe ich durch wie ein heißes Messer durch Butter, ich will am Bahnhof den Zug nach Iława noch erwischen und nicht fast 2 Stunden auf den Nächsten warten müssen. 

Hä? Zug? Naja, wieder so ein logistischer Streich meinerseits. In Prabuty habe ich nix passendes zum Übernachtungen gefunden, denn das verlängerte Pfingstwochenende steht vor der Tür und halb Polen will aufs Land fahren. Also habe ich in der nächsten größeren Stadt Iława ein Zimmer für ganze 4 Nächte gebucht. Heute beende ich meine Etappe am Bahnhof in Prabuty und fahre mit dem Zug nach Iława, um morgen früh wieder mit dem Zug hierher zu fahren. Dann geht's nahtlos weiter und so mache ich das, bis Pfingsten vorbei ist und die Buchungssituation sich wieder etwas bessert. (Ja, ich habe eigentlich ein Zelt dabei, aber für die komplette nächste Woche sind durchgehend Gewitter angesagt -- da muß ich nicht unbedingt im Zelt sitzen...)

In Iława ist das Wetter schon ein bißchen weiter und drückt immer mehr Wolkenberge an den Horizont. Als ich vom Bahnhof am See entlang zu meiner Tawerna laufe, gibt es die ersten Tropfen zu den ersten fernen Donnerschlägen und ich bin sehr happy, daß ich rechtzeitig angekommen bin. Erstmal auspacken. Und sich darauf freuen, 4 Nächte im selben Bett schlafen zu dürfen... Der Tag war Murks, weil eigentlich nichts so geklappt hat wie ich es geplant hatte. Aber irgendwie ging's am Ende doch -- und als ich Abends bei meinem Gute-Nacht-Bier sitze, wird mir klar, daß der Tag eigentlich sogar großartig war. Wenn Improvisiertes funktioniert, sollte man froh und dankbar sein...