Donnerstag, 14. April 2016

Tag 4: Nächste Grenze. Rüber nach Polen.

Tag 4/4: 09.04.2016
6 h / 24 km
Seelow nach Kostrzyn nad Odrą (PL)

Die Lady im Paketshop winkt lässig ab: Nein, ich muß das Paketklebeband nicht erst an der Schreibwarenshop-Kasse bezahlen, bevor ich das Paket zuklebe und an der Paketshop-Kasse auf der anderen Seite des Ladens das Porto löhne. Das schaffen wir auch so... Beschwingt von so viel Entspanntheit trete ich hinaus in die samstägliche Seelower Einkaufsstraße -- und bin allein. Es ist halb elf und kein Mensch ist zu sehen, auch auf meinem Weg raus aus der Stadt bleibt es still und leer. Erst an der Gedenkstätte "Seelower Höhen" drücken sich wieder einige Touristen in Autos herum.

Ich sitze eine Weile auf einer eiskalten steinernen Bank herum, rechne das Alter der gefallenen sowjetischen Soldaten auf dem Ehrenfriedhof aus, mache mir Gedanken darüber, daß sie um diese Jahreszeit die Seelower Höhen gestürmt haben. Das Oderbruch liegt flach und leer vor mir. Nur die schnurgerade B1 in Richtung Küstrin und Felder, soweit das Auge reicht.

Es wird kein schöner Tag werden, das war schon irgendwie klar. Reizlos. Da, wo die Seelower Umgehungsstraße auf den alten Verlauf der B1 einschwenkt, haben die Stadtväter das passende Schild für diesen Tag aufgehängt. Ich hänge mir zum ersten Mal die Kopfhörer in die Ohren, um die Eintönigkeit mit Musik zu ertränken. Mir ist schleierhaft, was man an diesem Teil vom Oderbruch irgendwie geil finden kann, der Wanderer findet hier nix, woran sein Auge hängen bleiben könnte. Kilometerweite Felder, staubige Feldwege, einsame Häuser mitten in der öden Landschaft. Das Postauto überholt mich, biegt weiter vorne nach rechts auf einen Hof ein. Statt zu klingeln, wird kurz gehupt, was mir andererseits sofort einleuchtet.

Bis zur Oder scheint auch Brandenburg immer dünner zu werden, irgendwie auszubluten. Immer mehr verfallene Gebäude sind zu sehen. LPG-Anlagen, die nach der Wende offensichtlich einfach verlassen wurden. Wohnhäuser, deren Dächer unter dem Gewicht der Ziegel sanft nachgegeben haben. Die letzten Häuser in Küstrin-Kietz wirken dann endgültig so, als würde die Zeit gleich zu einem alles zermahlenden Halt kommen, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

Aber es wird sich verzweifelt gewehrt. Nicht nur füllen sich die Straßen langsam mit den unvermeidlichen Berliner Wochenendausflüglern und Schnäppchenjägern. Je näher ich der Grenze komme, umso größer wird auch die Fülle an Wegweisern und Tafeln. Für Radfahrer, für Übernachtungssuchende, für Geschichts- und Naturinteressierte. Trotzdem ist dieses Grenzland eine perfekte Lektion in puncto Vergänglichkeit: Auf der Insel zwischen Oder und Oder-Umfluter steht eine alte Artilleriekaserne aus der Wehrmachtszeit und zerfällt vor sich hin. Die Straße davor ist schon längst vom Netz abgeschnitten und rottet einträchtig der Bedeutungslosigkeit entgegen. Hundert Meter weiter braust der Verkehr über die neue Trasse der Bundesstraße.

Ich überquere glücklich die Oderbrücke und bin in Polen. Hinter mir liegt der ausgeblutete Rest von Brandenburg, vor mir winken schon mal die grellen Werbeschilder des schnellen Polens. Fenster, Möbel, Dächer. Wie sich die Zeiten ändern und wie gleichzeitig alle Beteiligten immer wieder davon überrollt werden. Der gleiche Kontrast wiederholt sich, als ich kurz vor den verlassenen Grenzabfertigungsgebäuden des 20. Jahrhunderts nach rechts in die geschliffene Festung Küstrin abbiege. Eigentlich steigert er sich sogar noch. Wo heute eine wüste Landschaft aus Bäumen und Sträuchern wuchert, durchzogen von eigentümlich geraden Schneisen, stand früher die Altstadt von Küstrin. Im Krieg zerstört und nie wieder aufgebaut.

Schon ein paar Schritte weiter stolpere ich förmlich über die Reste von Stadtleben: Gehsteigplatten, Kopfsteinpflaster, Säulenfundamente, Reste von Hauseingängen, zu denen noch einige Steinstufen hinauf ins Leere führen, dunkle Kellerlöcher, aus denen es nach Schutt und Moder riecht, Grundmauern, Fundamente. Je länger ich durch diese Straßen laufe, umso stärker realisiere ich, daß ich gerade durch das Grab einer Stadt laufe. So mögen viele Städte nach dem Krieg ausgesehen haben, die meisten wurden wieder aufgebaut. Küstrin ist einfach einen Kilometer weiter nach Osten gezogen und hat sich am anderen Ufer der Warthe neu erfunden. Morgen werde ich auch durch dieses Neu-Küstrin laufen und bin gespannt, wie die Neuerfindung gelungen ist.

Gleich hinter der nächsten Geisterstraße liegt mein Hotelmonstrum für heute Abend, das im Wesentlichen aus einem ca. 200m langen Gebäuderiegel mit Geschäften und hunderten von Hotelzimmern besteht. Plus LKW-Parkplatz. Die Zimmer nach hinten raus blicken direkt auf die Geschichte der toten Stadt. Die Zimmer nach vorne auf eine Tankstelle und einen Supermarkt, die beide zum Hotel gehören. Dahinter schließen sich ein McDonalds und der in Grenzübergangsnähe unvermeidliche "Bazar" an. Ein absurder Ort. Besser könnte mein Grenzlandhotel den Riß zwischen dem gemütlichen Polen und dem Polen auf Speed nicht verkörpern.

Das Hotel ist bevölkert von schlechtlaunigen deutschen Ausflüglern, polnischen Kampfsportlern und ukrainischen Biznesmeny, deren Autotransportanhänger den großzügigen Parkplatz vor dem Hotel bevölkern. Die Bedienung im Restaurant parliert mit allen ganz entspannt in ihrer jeweiligen Muttersprache, auf dem Tisch steht das erste eiskalte Tyskie seit Zuhause, zum Beilagensalat gibt es endlich Dill statt Petersilie, der Supermarkt hat mehrere Sorten Kefir im Angebot und mich erfasst eine tiefe Zufriedenheit und Freude auf die nächsten Wochen.

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