Dienstag, 19. April 2016

Tag 8: Schloßleben

Tag 8/9: 14.04.2016
Strzelce Krajeńskie nach Mierzęcin
7 h / 23 km

Mein kleines Hotel bleibt konsequent: Das Frühstück wird auf dem Teller wie bestellt zugeteilt. Aber was will man bei ca. 20 EUR Zimmerpreis incl. Frühstück auch meckern. Im Radio läuft ein italienischer Disco-Klassiker aus den 80ern und ich kriege fast feuchte Augen, weil der Song eine Zeitlang mal meine Endlosschleife beim Autofahren war.

So ist auch der heutige Sehnsuchtsfaktor klar: Ich trete in einen kühlen Morgen und wünsche mir nichts sehnlicher, als hinten auf dem Parkplatz in mein Auto zu steigen, den Diesel anzuwerfen, Sitzheizung ist ja sowieso schon eingestellt, und ab auf die 22 nach Nordosten. Statt dessen balanciere ich vorsichtig die Stufen vor dem Hotel hinunter zur Straßenebene und laufe dem Stau entgegen, der schon am Vormittag die komplette Innenstadt im Griff hat. Ich suche das Driesener Tor, das ich gestern Abend bei Sichtung des örtlichen Wikipedia-Artikels als sehenswert beurteilt habe. (Das muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Ich schaffe es offensichtlich noch nicht mal, nach meinen Wanderetappen noch einen kleinen Stadtbummel zu veranstalten. Vielleicht maximal noch schnell zu Biedronka, das Nötigste einkaufen: Orangensaft, Schokoriegel und Taschentücher. Statt dessen informiere ich mich dann im Internet, was mein gastgebender Ort so zu bieten hat.)

Das Driesener Tor ist - im Vergleich zur Abbildung im Wikipedia-Artikel - vollkommen enttäuschend, ich nehme die mehrsprachigen Geschichtshinweise auf diversen Tafeln noch wohlwollend zur Kenntnis, aber dann flüstert mir jemand ins Ohr, daß ich dringend hier weg muß. Das geht in Strzelce Krawelcze (Arbeitstitel) Gott sei Dank recht schnell: An der Tankstelle abbiegen, ein paar Neubau-Eigenheime anschauen und schon stehe ich auf dem Feld. Ein freudloser Weg, am Horizont wartet der Wald. 

In Długie laufe ich durch eine sehr tote und sehr unheimliche Feriensiedlung am See. Vorne an der Straße scheint im Sommer der Badeterrorismus zu toben: Budenstraße, breite Fußgängerunterführung unter der 22 durch, drüben immerhin Sand auf Strand, Andeutungen geschlossener Gastronomie und die Androhung von Badeparty, wenn es denn wärmer wäre. Gott sei Dank ist das nicht der Fall. Auf dem Weg durch die Siedlung denke ich erst noch: "Ogottogott, ist das schräg verfallen hier.", bis ich merke, daß  Feriensiedlungen im Osten Deutschlands eigentlich nicht viel anders aussehen.

Über die Unterschiede zwischen Brandenburg und Westpolen muß ich die nächsten Stunden noch ein bißchen nachdenken. Durch beide fährt man irgendwie nur durch und denkt sich beim Blick aus dem Autofenster, wie sehr hier doch die Zeit stehengeblieben ist. In Polen denkt man zusätzlich oft noch: Mein Gott, muß das sein?. Wo in Brandenburg oft schon resigniert aufgegeben wurde, regt sich in Polen oft noch ein unerschütterlicher Glaube daran, daß es vielleicht doch geht. Das Ergebnis sind Schilder, Schilder, Schilder. Jede Landesstraße in Polen muß aus dem All mindestens genauso gut erkennbar sein wie die Chinesische Mauer, weil die riesigen Schilder (gerne auch in Neon) durchgehend beide Seiten der Straße säumen. 
Auch der Trend zum Neubau-Eigenheim ungebrochen, da nehmen sich Polen und Brandenburg erstmal nichts. In Werneuchen bin ich durch kilometerlange Neubaugebiete gelaufen, die bietet mir Polen auch an nahezu jedem Dorfrand. Mit zwei feinen Unterschieden: Es wird hier auf größeren Grundstücken gebaut und es wird Wert auf Accessoires gelegt. Die polnische Liebe zum säulenverzierten Eingang und dem schmiedeeisernen Gartenzaun zwischen gemauerten Pfosten ist unübersehbar.

Aber davon ist im Wald nicht viel zu sehen. Irgendwo einige hundert Meter rechts kreischen die Motorsägen im Holz, das Schild mit "Waldarbeiten! Betreten verboten!" habe ich zwar verstanden, aber selbstverständlich ignoriert. Und außer dem Fahrer des Holz-LKW, den ich für einen Moment hinten am Ende der Waldlichtung beim Pause machen erspähe, sehe ich die nächsten Stunde kein Lebenszeichen. Außer vielleicht von der dämlichen Zecke, die ich mir am Waldrand von der Hand klaube. Wie zur Hölle ist die denn da bitte hingekommen? Können die Biester jetzt schon fliegen? Ich bin seit Stunden nur auf 4m breiten Forststraßen unterwegs!

DIESE dämlichen Schilder gibt's auch in Niemcy...
Zwei Kilometer später stehe ich sehr skeptisch vor einem Feld mit Weinreben, die aber dafür auch nur so halb lebendig aussehen. Am schmeideeisernen Tor des etwas neureichen Neubau-Anwesens am Waldrand steht "Winnica", der - wie ich später noch lernen werde - polnische Ausdruck für "Weinberg". Hier zur Hölle wächst Wein? Ich hab gerade bei meiner Pause alle meine Klamotten angezogen, um nicht zu frieren...

Die nächste gute Stunde ist Laufen vom Feinsten. Ich finde Wege zwischen Wald und Feld dort, wo laut Karte eigentlich keine sind, ich sie aber bestens gebrauchen kann. Wege, die zu der klassischen Schlagzeile passen würden, nachdem Spaziergänger bei XY eine Leiche gefunden haben. Ich sehe die erste asphaltierte Straße seit 3 Stunden und husche drüber, ohne ein Auto zu sehen. Hinter Słonów bekomme ich Lust auf eine ausgedehnte Pause, weil die Sonne rauskommt. Also setze mich ins Gras neben dem Weg, lese ein bißchen - bis mir irgendwann mitten im Kapitel kalt wird und ich merke, daß ich weiter muß.

Die Wahl der heutigen Übernachtungslocation war in den letzten Tagen ein heißes Diskussionsthema in meinem Kopf. Zur Wahl standen eine günstige Bauernhofpension ohne Abendessen und Frühstück in einem Kaff oder das - festhalten! - "Pałac Mierzęcin Wellness & Wine Resort". Ich habe mich aus Luxusgründen für Letzteres entschieden, auch wenn ich das seit ein paar Tagen schon fast wieder bereut habe. Eigentlich wäre es gut gewesen, die Übernachtungsauswahl nach meinem 20-EUR-Hotel weiter aufzurauen, um meine Ansprüche auf ein gerüttelt Maß runter zu schrauben. Das neben dem Schloß gelegene Dorf hat so gar nichts mit Wellness und Wine zu tun und erinnert mich ein letztes Mal daran, daß vielleicht "Agroturystyka Dutkowski" doch die bessere Wahl gewesen wäre.

Statt dessen bucht ein Dödel wie ich das "Pałac Mierzęcin Wellness & Wine Resort". So einen Namen lässt man sich natürlich auch bezahlen und erwartet entsprechendes Klientel. Der Laden besteht aus einem riesigen Areal mit Park und ausgedehnten Wirtschaftsgebäuden aus altem Backstein. Als ich durchs Tor laufe, scharwenzelt der Pförtner hinter mir hier und fragt mich irgendwas, klingt nach "Wo wollen wir denn hin?". "Hotel, Hotel", brabbelt der stumme Deutsche. Der Typ will mir daraufhin ernsthaft weismachen, daß es hier kein Hotel gäbe. Sehe ich tatsächlich schon so schlimm aus? Ok, ich komme hier nicht in meinem A4 Kombi mit Berliner Kennzeichen an, sondern in staubigen Schuhen und mit einem überdimensionalen Rucksack, aber der Hieb sitzt. Erst der Hinweis auf meine "rezerwacja" läßt den Torhüter verstummen und mich weiter aufs Gelände ziehen, wo ich mich plötzlich gehörig fehl am Platz fühle.

Dieser Eindruck verstärkt sich noch mächtig, als ich die Tür zum Schloß öffne, um an der Rezeption meinen Schlüssel abzuholen. Den beiden Angestellten ist die Überraschung leider auch ein wenig ins Gesicht geschrieben, was sich für einen Moment Scheiße anfühlt, dann aber sofort zum Konter führt, in dem ich in flüssigem Englisch auf meine Reservierung hinweise und die Kreditkarte zücke.

Später im Restaurant wendet sich das Blatt. Die Preise sind für polnische Verhältnisse happig, aber im Vergleich zu einem ordentlichen Essen in Berlin immer noch vollkommen ok. Das Ambiente ist top, es schmeckt vorzüglich und ich investiere 50 EUR in ein dreigängiges Steak-Abendessen mit diversen Weinen. Als ich über den Hof zu meinem Zimmer schlendere, wird es gerade dunkel und es riecht nach frischem Regen. Und ich bin nun doch sehr zufrieden mit meiner Entscheidung. Daß ich dafür als Kontrast morgen Abend im Zelt übernachten werde, paßt dabei bestens in Bild.

1 Kommentar:

  1. Hallo Kilian, ich freue mich jeden Morgen in der Straßenbahn über deinen Bericht und leide und genieße mit. Hoffentlich hast du heute Abend im Zelt WLAN. Grüße aus der kalten Heimat Weißensee, Jan (Nachbar von Marlen und Otti)

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