Mittwoch, 20. April 2016

Tag 9: Am See, im Regen.

Tag 9/10: 15.04.2016
Mierzęcin nach Zeltplatz Rokitno (Jez. Rakowe)
6 h / 21 km

Schnell raus aus dem Schloß. Auch wenn das Abendessen gestern saugut war -- hier passe ich nicht wirklich her. Und so fühlt sich der Rucksack auf meinem Rücken sehr familiär an, dazu gibt es einen sonnigen Morgen. Auf dem Feld sehe ich das erste Mal in diesem Frühling die Luft flimmern, aber das ist wahrscheinlich eher als eine Vorankündigung auf warmes Wetter später im Jahr zu werten. 

Mein Rucksack ist erschreckend leer für Camping am See -- übernachten könnte ich da freilich. Zelt, Isomatte und Schlafsack sind an Bord, aber was fehlt, ist Futter. Abendessen, vielleicht ein Bier, irgendwas für's Frühstück. Ich entscheide mich todesmutig gegen einen kilometerweiten Umweg über Dobiegniew, wo mit Sicherheit ein Supermarkt die volle Warenauswahl bereit hält und vertraue statt dessen darauf, daß ich schon noch an irgendeinem Sklep vorbeikommen werde, wo ich mir halt irgendwas zusammenkaufen kann. 

Übers Feld, über Hügel, über die 22. Das in den letzten Tagen immer wiederkehrende Rezept der Vormittage. Insgesamt habe ich heute so ca. 5 Dörfer auf meiner Route, durch die ersten beiden ziehe ich ohne Anzeichen irgendeiner Verkaufsstelle hindurch. Dabei hatte ich eigentlich meine Hoffnung auf Wołogoszcz gesetzt. Eigentlich ein verschlafenes Nest, aber neben der 22 gelegen und der Karte nach das größte der heute zu erwartenden Dörfer. Ich zögere kurz, ob mich nicht an die Hauptstraße stellen soll, um doch noch schnell für einen Einkaufstrip nach Dobiegniew zu trampen. Aber der Rebell in mir (und auch ein bißchen das schlechte Gewissen angesichts meiner königlichen Versorgung gestern Abend) wischt den Gedanken beiseite.


Am frühen Nachmittag zieht sich der Himmel wieder langsam zu, auch das gehört zur eingespielten Choreographie der vergangenen Tage. Im vorletzten Dorf finde ich mich fast schon damit ab, Abendessen und Frühstück mit Wasser und ein paar Schokoriegeln aus meinem eiserner Vorrat zu bestreiten. Aber dann: Das letzte Dorf für heute - Radęcin - meint es gut mit mir. Gleich zwei Skleps hintereinander bieten sich auf der Dorfstraße zur Shoppingvielfalt an. Ein bißchen fühle ich mich wie die bunte Kuh in der Oper, als ich mit meinem Mörder-Rucksack in den Dorfladen gehe und der Verkäuferin auf ihre mir unverständliche Frage mit "Przepraszam, but I don't speak polish..." antworte. Trotzdem verkauft mir die gute Frau im Laden gegenüber von der Kirche zwei Bier, Orangensaft, ne Flasche Cola, ein Stück Käse, etwas Brot und ein paar andere Kleinigkeiten. Und der Abend ist gerettet.

Nicht bedacht allerdings habe ich mal wieder, daß ich den ganzen Kram auch tragen muß. Vier Kilo, schätzungsweise? Am Waldrand packe ich meine Einkäufe von der Tüte in den Rucksack um, der plötzlich wieder höllisch schwer ist. Nur die Aussicht darauf, daß das morgen früh alles weg sein wird, verhindert einen sofortigen massiven Frustanfall. Und während ich in den Wald eintauche, merke ich die ersten zaghaften Regentropfen auf meinem Gesicht, die einen verregneten Abend ankündigen.

Eine Stunde später stehe ich an der Kopfsteinpflasterstraße hinter Wygon. Ein sehr schräger Moment, denn bis genau hierhin fühlte sich Westpolen als irgendwie bekanntes Terrain an. Überall schonmal durchgefahren, überall schonmal eine kleine Wanderung gemacht. Weiter als bis zu dieser Kopfsteinpflasterstraße war ich in Richtung Nordosten noch nicht. Denn genau hier stand ich vor ein paar Wochen schon einmal, als ich da drüben mein Auto geparkt habe. Nachdem ich damals auf meinen Wanderkarten gesehen hatte, daß tonnenweise Zeltplätze im Wald eingezeichnet sind, wollte ich mir ein Bild davon machen, was die Kollegen in Polen darunter wohl so verstehen -- und ich wurde positiv überrascht. Mein heutiges Ziel ist eine Wiese an einem langgezogenen See, eingebettet in tiefen Wald, das nächste Dorf ca. 3-4 km weit weg. 

Und ich habe diese Wiese für mich alleine. Trotz Freitagabend keine Angler, keine Camper, nur Wald und Vögel um mich herum. Ich baue mein Zelt auf und als ich gerade fertig bin, beginnt es zu regnen. Hastig werfe ich meinen Kram ins Zelt, brauche eine gefühlte Ewigkeit, bis ich in der Enge meinen Rucksack ausgepackt und sortiert habe, bis die Isomatte unten, der Schlafsack darüber und ich obendrauf sitze. Glücklich krabbele ich in meinen Schlafsack und döse erstmal eine Runde, begleitet vom leisen Trommeln des Regens auf die Zeltplane. Das ist - mit Verlaub - der bisher glücklichste Moment der letzten 10 Tage.

Der Hunger kommt zuverlässig und als der Regen gerade mal eine kurze Pause macht, öffne ich die Zeltwand und verspeise mit Aussicht auf den See mein kleines Abendbrot. Raus will ich nicht mehr, draußen ist alles naß, hier im Zelt zwar eng und unübersichtlich, aber warm und gemütlich. Irgendwann gegen 20:00 wird's dunkel, noch ein paar Seiten Lesen im Licht der Stirnlampe. Ich höre dem Regen zu, wie er aufhört - und gleich wieder anfängt. Irgendwann weiß ich, daß es Zeit ist, einzuschlafen. Entronnen den Hotels mit festen Frühstückszeiten, der Landesstraße 22, der Sehnsucht nach Autofahren. Statt dessen alleine im Wald und draußen nur Regen, Wind und Stille.

Bis ich irgendwann merke, daß ich nicht einschlafen kann. Ständig nach unbekannten Geräuschen lausche. Höre ich da ein Auto? Kommt da jemand den Berg runter? Was war das für ein Klatschen auf der Wasseroberfläche? Gibt's hier eigentlich Wildschweine (die dazu passende Suhle ca. 50m von meinem Zelt entfernt habe ich zwar vorhin gesehen, aber erst in diesem Moment des Nicht-Einschlafen-Könnens fällt der Groschen)? Scheiß Waldromantik, scheiß Outdoor-Kompetenz. Ich bin dämlich genug, noch im Dunkeln im Schlafsack mein Handy mit den Suchbegriffen "wildschweine zelten" zu füttern und weiß schon vor der Anzeige der Suchergebnisse, daß ich mir das lieber hätte sparen sollen.

Irgendwann machen auch die zahlreichen Vögel rund um den See und den Wald Feierabend und es wird richtig still. So still, daß man die Fische im See glucksen hören kann. Ich höre keine Wildschweine, denke aber viel zu viel an sie und schlafe irgendwann ein.

1 Kommentar:

  1. Lieber Kieli, jeden Abend freue ich mich schon auf den nächsten Morgen, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit mit Dir wandern kann :) Weiter so!
    Genauso habe ich mir übrigens eine Nacht im Zelt alleine im Wald vorgestellt, nur das mir mein Kopfkino voller Wildschweine oder anderer unwillkommener Zeitgenossen eine schlaflose Nacht beschert hätten! Respekt und eine weitere abenteuerliche Wanderung mit vielen glücklichen Momenten wie den oben beschriebenen! LG Mimi

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