Dienstag, 31. Mai 2016

Tag 36: Endlich mal wieder frieren...

Tag 36/43: Donnerstag, 26.05.2016
Ełk nach Kalinowo
6 h / 28 km 

Wie immer wache ich viel zu früh auf, aber beim Blick aus den Fenster raus auf den See hüpft mein Herz: Wolken, Nebel, kalter Wind. Ich bleibe heute früh extra lange im Bett liegen und genieße jede Minute, während die kühle Luft durch das Fenster hereinströmt.

Das Tellerfrühstück unten im Pub hat etwas Absurdes, alle Tische sind paßgenau und abgezählt eingedeckt, jeder hat ein Glas Orangensaft vor sich, das komplett bis zur Oberkante voll ist. Die Brötchen sind wattebauschweich, dann flattert überraschenderweise ein Omlett auf meinen Tisch. Beim Aufschneiden läuft mir eine dampfende Masse aus Tomaten, Zwiebeln und geschmolzenem Käse entgegen. Not today, my friends. Not today. Ich bin immer noch pappsatt von meiner viel zu großen Pizza gestern Abend. Ich hab sogar noch ein paar Stücke übrig, als Pausenschmaus in meinem Rucksack...

Als ich später in meiner üblichen Wanderkluft durch Ełk laufe, ist es immer noch schön kalt. So sehr, daß ich ernsthaft überlege, ob ich mir doch was Langes obenrum anziehen soll. Aber ich lasse es sein, weil nach den letzten viel zu heißen Tagen das Gefühl von leichtem Frösteln einfach nur herrlich ist.

Allerdings fällt mir auf: Irgendwas stimmt hier nicht. Sie Stadt ist wie ausgestorben Ich muß erst an großflächig geschlossenen Geschäften vorbeigehen, bis mir langsam dämmert: Feiertag. Fronleichnam. In Polen wird heute praktischerweise auch gleich noch Muttertag gefeiert. Die Supermärkte haben alle geschlossen, selbst die Skleps sind dicht. Und ausgerechnet heute habe ich nichts zu Trinken dabei, weil ich eigentlich auf dem Weg durch die Stadt noch einkaufen wollte. Ganz hinten zwischen Industrie- und Neubaugebiet, als ich schon gar nicht mehr daran glaube, hat dann doch noch ein Sklep geöffnet, ich decke mich großflächig mit Getränken ein. Nachschub wird es wohl heute nicht mehr geben.

Auf dem Weg raus aus der Stadt sehe ich das erste Straßenschild mit Hinweis auf die litauische Grenze und atme tief durch. Hinter dem wirklich allerletzten Autohaus von Ełk (Fiat/Jeep/Alfa) darf ich endlich nach links in den Wald eintauchen. Die Mücken sind wieder da, allerdings etwas lustloser als sonst.

Schon zwei Dörfer weiter bekomme ich Lust auf Mittagspause, werfe mich auf ein Stückchen Wiese neben dem Feldweg und esse erstmal feierlich meine Pizza von gestern Abend fertig. Inzwischen ist es doch wieder recht warm geworden, aber selbst in der Mittagssonne ist es noch gut auszuhalten. Also liege ich noch eine Stunde faul im Gras herum und lese ein bißchen.

(Bildmitte: Weg)
Zwei Kilometer weiter allerdings ist mein Weg irgendwie weg. Auf der Karte sah das alles noch ganz vertrauenerweckend aus, in der Realität wird aus dem breiten Feldweg eine schmale Fahrspur, dann ein zugewucherter Hohlweg, den ich noch über das benachbarte Feld umgehen kann, aber bald schwimme ich doch wieder zwischen Feldern und Gestrüpp im brusthohen Gras, durch dampfende Luft, und folge eher einer groben Richtung als einem Weg.

Links von mir taucht ein Sumpfgebiet auf, es raschelt und knackt im Gebüsch. Ich rufe ein paar Mal laut, damit sich z.B. Familie Wildschwein nicht so überrascht fühlt, aber dann brechen statt dessen zwei klatschnasse Hunde aus dem Unterholz. Mir rutscht mal eben das Herz in die Hose. Offensichtlich waren sie schwer im Sumpf unterwegs, beide sind bis auf die Knochen naß und vermatscht, schauen mich etwas irritiert an, sind aber reichlich desinteressiert und verschwinden zügig wieder. Ok, also keine zähnefletschenden verwilderten Monster, die zwei Kilometer vom nächsten Dorf entfernt möglichen einsamen Wanderern auflauern. Trotzdem bin ich froh, als ich endlich wieder auf dem freien Feld stehe.

In den Dörfern herrscht Feiertagsstimmung. Alle sind im Garten, entweder arbeitend oder faulenzend, ein junger Vater zimmert an einem Baumhaus für seine Kinder. Ich laufe einfach mitten durch diese Idylle hindurch und gehöre nicht dazu, freue mich über jedes Stückchen Schatten, das die Straßenbäume auf den Asphalt werfen und ziehe durch das Land.


Wieder habe ich für heute Abend keine passende Übernachtung gefunden, also habe ich die Busfahrpläne studiert. Heute Nachmittag fährt genau ein Bus nach Augustów, so gegen 16:30 Uhr. Den sollte ich erwischen. Morgen früh kann ich dann wieder mit dem Bus hierher zurückfahren und das restliche Stück nach Augustów "ablaufen".


Natürlich bin ich viel zu früh an der Bushaltestelle, also sitze ich erstmal erschlagen im herrlichen Schatten des Bushäuschens herum und schaue den Autos auf der DK 16 zu. Irgendwann stelle ich mich an die Straße und halte den Daumen raus, vielleicht geht ja noch was, bevor der Bus fährt. Dank Feiertag ist auf der DK 16 erstaunlich wenig los, aber nach einer knappen halben Stunde hält ein Auto an. Marcin aus Gdansk nimmt mich mit nach Augustów, wo er aufgewachsen ist. Er bringt mich sogar noch bis zu meinem Pensjonat am anderen Ende der Stadt und wir verabreden uns noch für einen der Tage des langen Wochenendes auf einen Stadtrundgang und ein Bier


Die abendliche Suche nach einem Restaurant endet im wüsten Getümmel. Ganz Augustów plus Touristen ist auf den Beinen und bummelt in den Feiertagsabend hinein, die Biergärten sind bis zum Anschlag gefüllt, vor dem einzigen offenen Getränkeladen der Stadt steht eine mittlere Schlange und mir ist das für heute alles ein bißchen zu viel. Abendessen lasse ich ausfallen, kaufe mir statt dessen noch ein Eis und zwei Bier -- das muß als flüssige Nahrung für heute genügen.

Statt dessen genieße ich in meiner stillen Pension die abendliche Ruhe, stöbere durch den Stapel neuer Wanderkarten, die mir Otti hierher geschickt hat und telefoniere lange mit der Heimat. Kurz vor dem Einschlafen erinnere ich mich daran, daß ich mich seit Tagen auf Augustów gefreut habe, vor allem weil ich hier schon mehrmals auf dem Weg nach Litauen durchgefahren bin. In der Fremde an Orte zu kommen, die man kennt, ist ein besonderes Privileg. Und: Augustów fühlte sich schon immer so an, als würde hier ein neues Kapitel beginnen. Das Kapitel der Holzhäuser, des riesigen Wälder der Puszcza Augustowksa, die letzten Kilometer bis zur Grenze nach Litauen.

Montag, 30. Mai 2016

Tag 35: Gewitterlastiges Bushäuschen-Roulette.

Tag 35/42: Mittwoch, 25.05.2016
Klusy nach Ełk
5 h / 21 km

Schon zum Frühstück gibt es die trompetenden Warnungen der anderen Gäste: Es ist Gewitter angesagt! Ich nehme das erstmal gelassen hin. Noch ist davon zwar weit und breit nix davon zu sehen, aber fällig wäre es ja mal nach den letzten warmen Tagen.

Uwe fährt mich wieder zu meiner Bushaltestelle nach Klusy, wir verabschieden uns mit Handschlag und ich bin trotzdem froh, wieder weiter zu kommen. So schön es ist, mal zwei Nächste am Stück im gleichen Bett zu schlafen, so richtig fühlt es sich auch an, wieder mit all meinen Habseligkeiten auf dem Rücken unterwegs zu sein.
Den angepeilten Weg durch den Wald gibt es offensichtlich nicht, also laufe ich zum Auftakt des Tages mal wieder auf der DK16 zwischen 40-Tonnern und hart überholenden PKW in Richtung Osten. Verdammt nochmal! Rechts der Truppenübungsplatz, links der Sumpf, also bleibt nichts weiter als "vorwärts!", bis ich endlich von der Straße abbiegen kann.

Schon gegen Mittag hat sich der Himmel ordentlich zugezogen und ich laufe durch eine seltsame Landschaft aus grünen Feldern, die offensichtlich von großen Baumaschinen vergewaltigt wurden. Die Wege sind eher breite Autobahnen aus getrocknetem Schlamm, der in der Hitze der letzten Tage Risse geworfen hat. Links bis zum Horizont frisch gebaggerte Gräben, rechts riesige Sandhügel. Und geradeaus sehe ich den ersten Gewitterberg am Himmel. Es donnert bedrohlich, ich kriege auch schon die ersten Tropfen auf den Kopf, aber irgendwie schaffen es der Wind und ich, unsere Wege so zu koordinieren, daß ich um das Gewitter herumlaufe.

Statt im Regen lande ich in einer heideartigen Landschaft, von Zäunen eingegrenzt, leere Schafställe aus Blech rosten in der Sonne vor sich hin. Ich sehe keine Tiere, keine Häuser, nur die Insekten schwirren wie immer um ich herum. 
Auch für den heutigen Tag habe ich nur meine komische Comic-Wanderkarte, also folge ich eher den Wegen, die sich mir so im Laufe des Tages anbieten, als aktiv durch die Landschaft zu navigieren.

Endlich den Matschautobahnen entkommen und wieder auf Asphalt unterwegs, höre ich hinter mir erneut Donnergrummeln und als ich mich umdrehe, präsentiert sich ein schönes Panorama einer Gewitterzelle, die auf mich zumarschiert. Oh. Über mir scheint zwar noch die Sonne, aber als ich das Mini-Dorf mit 3 Bauernhöfen und 4 Wohnhäusern durchquere, steht am Straßenrand ein schönes Bushäuschen aus Wellblech und bietet sich als schattiger Pausenplatz an. Mindestens! Vielleicht auch als Unterstand. Denn es sieht zwar so aus, als würde das Gewitter an mir vorbeiziehen, aber - wer weiß.

Nach 10 min Sitzen und Abkühlen knallt es plötzlich oben auf dem Dach, dann gleich nochmal und es hört sich so an, als würden faustgroße Hagelbrocken vom Himmel auf das Wellblech fallen. Sind aber nur Regentropfen - dicke, träge, flatschige Gewitter-Regentropfen. Ich freue mich über meinen kuscheligen Platz im Trockenen, während draußen für eine Viertelstunde die Welt untergeht. Die Straße verwandelt sich in einen Fluß, der Lärm des Regens auf dem Wellblechdach ist ohrenbetäubend und ich schiebe mehrfach meinen Rucksack von hier nach da, um ihn aus den Sturzbächen rauszuhalten, die durch irgendwelche Löcher im Dach kommen. Plötzlich ist der Spuk vorbei - genauso schnell, wie er gekommen ist. Als hätte jemand in die Hände geklatscht und auf dieses Zeichen hin wäre das Wasser abgedreht worden. Mißtrauisch bleibe ich noch ein bißchen sitzen und schaue der Sonne zu, wie sie wieder die Oberhand gewinnt und die Straße in ein dampfendes Bügelbrett aus Asphalt verwandelt.

Nochmal 10 min später verlasse ich dankbar mein kleines Bushäuschen, das inzwischen wieder im schönsten Sonnenschein erstrahlt. Auf die Dusche konnte ich echt verzichten.
Die Straße dampft, die Felder duften und ich ziehe zufrieden weiter. Wie gut, daß ich auf mein Bauchgefühl gehört habe und einfach mal in Ruhe Pause gemacht habe.

Aber schon eine gute Stunde später hat sich der nächste Gewitterschauer von hinten herangeschlichen. Erst als es nahezu gleichzeitig kracht, blitzt und zu regnen beginnt, nehme ich die Wolkenwand überhaupt wahr. Uah! -- und ich bin noch mitten auf dem Feld! Immerhin ist es nicht mehr weit bis zum nächsten Dorf und vermutlich auch bis zum nächsten Bushäuschen. Also Beine in die Hand genommen und Vollgas! Aber dieser Schauer ist noch schneller vorbei als der letzte, eigentlich schon fast in dem Moment, in dem ich in das rettende Bushäuschen einlaufe. Ich warte zur Sicherheit nochmal 10 min und dieses Spielchen wiederholt sich in den nächsten Stunden noch mehrmals, bis kurz vor Ełk dann endgültig die Sonne gewinnt.

Am Ende des Tages laufe ich relativ durchnäßt von Regenschauern, maximaler Luftfeuchtigkeit und anstrengenden Sprintetappen über die Schloßinsel im Ełker See in einen auf den ersten Blick vergleichsweise sympathischen touristischen Ort ein. Direkt an der Seepromenade liegt ein Pub, das relativ nette Apartments zu sehr günstigen Preisen vermietet und ich nehme mir gleich mal ein litauisches Bier to go mit aufs Zimmer. Abends überfresse ich mich total bei Salat und Pizza, liege komatös auf dem Sofa herum und bin so bewegungsunwillig, daß ich lieber dem Regen zuschaue, wie er auf dem Balkon meine zum Trocknen aufgehängten Klamotten wieder zum Tropfen bringt. Ach, das wird bis morgen Früh schon wieder werden...

Sonntag, 29. Mai 2016

Tag 34: Akute Unlust.

Tag 34/41: Dienstag, 24.05.2016
Nowe Guty nach Klusy
5,5 h / 24 km 

Spätes Frühstück, entspanntes Rumsitzen und Tee trinken, die Gastgeberin trägt nochmal frische Apfelpfannkuchen mit Puderzucker auf. Draußen knallewarm -- und ich habe heute überhaupt keinen Bock auf Laufen. Ich bin mäkelig, habe zu wenig geschlafen, weil es gefühlt schon ab 03:30 Uhr draußen hell ist. Aber vom Rummaulen ist bekanntlich noch niemand angekommen.

Also mit Uwe einen Treffpunkt und eine ungefähre Zeit für heute Nachmittag vereinbart, Rucksack aufgeladen, die Dorfstraße runter und zwei Kilometer weiter nach rechts aufs Feld abbiegen. Der Tag beginnt mit einem mittleren Umweg, weil ich erstmal um den riesigen Truppenübungsplatz östlich von hier herumlaufen muß. Meine unschuldige Frage an Uwe, wie ernst das Militär es denn hier mit dem Betretungsverbot nehmen würden, konnte durch ein einziges Wort beantwortet werden: Manöverzeit.

Also wühle ich mich über halb verwachsene Feldwege nach Nordosten, treffe auf dem Feld einen alten Mann, der so überrascht ist, daß er schlechte Laune bekommt und mich nicht zurück grüßt. Die Luft dampft in der Sonne zwischen den Feldern, ab und zu kommt wenigstens nochmal der Wind zurück und bringt der Haut willkommene Kühlung.

In Orzysz mache ich Pause auf dem frisch gemähten Rasen des Spielplatzes (ja, wieder mit kombinierten Fitness-Geräten) und beobachte einige Militärkolonnen, die vom Bahnhof aus auf die Hauptstraße einbiegen. Ansonsten ist es eine trostlose Kleinstadt, die nur aus der Garnison des polnischen Militärs und einem überdimensional großen Friedhof zu bestehen scheint. Immerhin finde ich hinter dem Campingplatz am Ortsende einen Weg, der elegant zwischen zwei Seen hindurchführt und mir gleichzeitig eine halbe Stunde auf der Landesstraße 16 erspart. Als ich letztendlich doch wieder auf die 16 treffe, parkt ein französisches Wohnmobil mitten auf dem Waldweg, darin ein mittagspausierendes Rentnerehepaar, das sich gehörig erschreckt, als ich plötzlich vor ihrer Windschutzscheibe auftauche.

Was ich inzwischen über Masuren gelernt habe: Es gibt ohne Ende Seen, aber du kommst nur relativ selten überhaupt bis ans Wasser ran. Die meisten Seen sind gesäumt von breiten Schilfgürteln und/oder sumpfigen Waldgebieten, so daß trotz Überfluß an Wasserflächen die Gelegenheiten, sich auch mal wirklich ans Wasser zu setzen, außerordentlich rar sind. Aber ich habe Glück und finde einen schattigen Platz mit einem 40 cm breiten Sandstrand und folge sofort dem Beispiel der französischen Rentner: Mittagspause. Ich sitze eine Stunde am Ufer herum, genieße den Wind, plätschere immer mal wieder mit den Füßen im Wasser herum und trinke meine Flaschen leer. Kann mich Uwe nicht einfach hier abholen? Dann könnte ich einfach sitzen bleiben und müsste nicht noch 3 h Laufen...

Ich weiß gar nicht richtig, was mich am heutigen Tag so quält. Eigentlich ist es ein abwechslungsreiches Wandern durch kühlen Wald und sonnig-glänzendes Feld, durch schlafende Dörfer im Nachmittagsschlaf. Die fehlende Übernachtungsmöglichkeit habe ich elegant gelöst, indem ich in Klusy abgeholt und morgen früh wieder dort hingebracht werde. Eigentlich läuft alles wunderbar, aber irgendwas in meinem Kopf hat auf Abwehr und Widerstand geschaltet. Und ich kriege es den restlichen Tag nicht mehr raus. Selbst so fettgedruckte Einladungen wie ein frisch gemähtes Stück Wiese neben einem kleinen Waldsee lasse ich später links liegen, weil ich irgendwas dran zu mäkeln habe (in diesem Fall: Iiiih, da sind ja Mücken...). Ich bin grundlos genervt und bin gleichzeitig genervt, daß ich genervt bin. Sonst hänge ich mir an solchen Tagen besser Musik in die Ohren, aber ausgerechnet heute habe ich den mp3-Player im Zimmer gelassen.

Ungefähr eine Stunde vor der vereinbarten Abholzeit komme ich in Klusy an und drehe erst nochmal eine Runde durchs Dorf, auf der Suche nach einem Sklep und heiß auf Getränke. Leider Fehlanzeige, vor der Kirche steht nur ein fliegender Händler, der aus deinem Anhänger heraus bunten Plastikkram feilbietet. Kinderspielzeug, Haushaltswaren, Dekoartikel. Nichts davon könnte ich heute gebrauchen.

Also verziehe ich mich wieder runter an die Bushaltestelle an der Landstraße und warte auf Uwe. Der kommt eine halbe Stunde später angebraust, auf dem Weg zurück nach Nowe Guty erzähle ich, was ich heute so an Wild gesehen habe. Uwe hält unvermittelt auf der 16 seinen Volvo an, knallt den Rückwärtsgang rein und biegt auf einen Waldweg ab. Kleiner Ausflug: Er zeigt mir in seinem Jagdrevier einige Ecken, an denen Elche zu finden sind -- witzigerweise ziemlich genau an Stellen, an denen ich heute schon vorbeigelaufen bin. Lange habe ich niemanden sein Auto so erbarmungslos durch den Wald prügeln sehen, aber ich sitze vollkommen entspannt auf dem Beifahrersitz, die Klimaanlage summt leise und ich kann endlich mal all die Jäger- und Försterfragen loswerden, die ich schon immer mal wissen wollte.

In meinem Zimmer erwartet mich der herrlich kalte Fliesenfußboden, ein Abendessen im Biergarten und die Erleichterung, den Tag irgendwie erledigt zu haben.

Samstag, 28. Mai 2016

Tag 33: Mücken-Invasion und Spiderbros.

Tag 33/40: Montag, 23.05.2016
Mikolaiki nach Nowe Guty
6,5 h / 29 km

"Bloß raus hier." Das ist alles, was ich heute früh im Kopf habe. Das Bett in meinem Zimmer war schlimm, eine 10 cm dicke Schaumstoffplatte auf knallharten Holzlatten. Durch das Laken scheint ein fetter Blutfleck auf der Matratze. Irgendwann in dieser schlaflosen Nacht habe ich einen Rappel bekommen und das zweite Bett in meinem Zimmer auseinandergenommen, um mir mit der zweiten Matratze und dem Bettzeug als zusätzliche Polsterung wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu stehlen.

Entsprechend genervt starte ich in den Tag. Wieder warm, wieder bis zu 27° angesagt. Der nächste Sklep liegt praktischerweise gleich gegenüber, ich decke mich mit Getränken ein und verliere kurz darauf erstmal meine Mütze. Kurze Panik, sofortiges Umdrehen und Zurücklaufen, aber ein freundlicher Mitmensch hat die Kappe schon gefunden und zum Finden an einen Pfosten gehängt. Uff!

Aber der Murks geht weiter. Statt den richtigen Weg aus der Stadt raus zu nehmen, nehme ich den falschen, weil ich zu stolz bin, auf die Karte zu gucken. Dafür lande ich überraschenderweise schick am Wasser und kann an der Uferpromenade entlanggehen, die aber in einer Sackgasse endet. Also marschmarsch zurück. Den ersten Kilometer Umweg habe ich also schon auf der Uhr, obwohl ich noch keine Stunde unterwegs bin. Gott sei Dank klappt wenigstens die Abkürzung, mit der ich mich wieder auf den richtigen Weg retten will: Vorbei an der sozialistischen Wohnanlage, durch den dazugehörigen Kleingärten und den Garagenhof, immer knapp an der Schweinemastanlage entlang. Endlich auf dem richtigen Weg kann ich den Kopf abschalten: Die nächsten Stunden geht es ganz entspannt immer nur geradeaus. Eigentlich laufe ich den ganzen Tag entlang des Jezioro Śniardwy, dem größten See der Masurischen Seenplatte.

Ein Auto kommt von hinten angefahren und wird langsamer, ein junges Paar fragt mich, ob sie mich ein Stück mitnehmen sollen. Ich ringe schwer mit mir, bleibe aber standhaft. Später am Tag wäre ich vielleicht schwach geworden, aber es ist gerade mal Mittag. Und überhaupt! Und tatsächlich sehe ich ihre Auto nur gute zwei Kilometer weiter an der See-Gaststätte auf dem Parkplatz stehen. Ich entschließe mich spontan zu zwei kalten Mittagsgetränken, um meine Flüssigkeitsvorräte im Rucksack zu schonen, setze mich auf die Terrasse des alten Gutshauses und blinzele in die Sonne. Für den Aussichtsturm am See bin ich zu geizig (30 PLN...), auch wenn der sicherlich einen klasse Blick präsentiert hätte.

Statt dessen ziehe ich weiter auf dem halb gepflasterten Rumpelweg Richtung Osten, durch sumpfiges Gelände, links und rechts des Weges undurchdringliches Dickicht. Es dauert nicht lange, bis mich die Mücken entdeckt haben. Und zwar so richtig! Schöner schattiger Wald, feuchter Boden, kein Wind: Der optimale Platz für die Biester. Das optimale Opfer für die Biester: Der Wanderer, der sich weigert, lange Klamotten anzuziehen und vergessen hat, sich wenigstens mit Autan o.ä. einzuschmieren. Erst sind es nur ein paar Mücken, die hinter mir herschwirren, aber alle paar hundert Meter wird der Pulk größer. Jedesmal, wenn ich einen Arm aus Versehen nach hinten schlenkere, kann ich förmlich in den Schwarm hineingreifen. Mein Schritt wird unwillkürlich schneller und ich kriege Gänsehaut -- was die Biester natürlich nur noch heißer macht. Mehr Schweiß, mehr Hautoberfläche. Ich kann gar nicht so schnell draufhauen, wie die Mücken zustechen, stehenbleiben will ich in dieser Situation aber bestimmt auch nicht. Links ein alter deutscher Bunker neben der Straße, ja danke, ist mir heute wurscht. Ein verwackeltes Foto kriege ich im Laufen noch hin, aber eine ausführliche taktische Geländeanalyse muß leider ausfallen. Rechts ein Picknickplatz, liebevoll vom örtlichen Forstamt in Schuß gehalten. Nö danke, ich muß weiter, kann nicht stehen bleiben. Ich schätze den Schwarm meiner persönlichen Begleiter inzwischen auf ca. 200 Exemplare, bis irgendwann! endlich! nach einer Ewigkeit! eine Waldlichtung auftaucht. Direkte Sonne, etwas Wind, und sofort ist der Spuk vorbei. Ich werfe den Rucksack ab, dusche förmlich in Autan, habe zwar danach immer noch dieselbe Horde hinter mir, aber sie halten etwas mehr Abstand. 

Zwei Kilometer weiter ist der Wald zu Ende, ich mache einen Wanderkarten-/Uhrenvergleich und stelle fest: So schnell bin ich wahrscheinlich noch nie 5 km gewandert. Ich brate zwar ab sofort in der Sonnenhitze des frühen Nachmittages, aber dafür ist es hier so schön windig, daß ich erstmal mit ausgebreiteten Armen am Feldrand stehe und glücklich den kühlenden Luftzug genieße.
Der Schulbus staubt mir auf der Schotterpiste entgegen, ich denke schon darüber nach, ob der wohl gleich wieder zurückkommt und mich ein Stück mitnehmen wil? Gott sei Dank tut er es nicht und ich komme nicht in Versuchung. 

Statt dessen drei Stunden Landstraße und immer vorwärts. Hört sich vielleicht schlimm an, ist heute aber tatsächlich herrlich. Zwischen den Dörfern entspannte Kühe, in den Dörfern alte Bauersfrauen, die sich mit ihren Männern zanken. Die Straße ist gesäumt von riesigen alten Alleebäumen, die einen schattigen Tunnel werfen und gleichzeitig genug Wind durchlassen, so daß man wohlig kühl darunter durchwandern kann. Autos kommen vielleicht so alle halbe Stunde mal, manchmal auch gar nicht. 

Allerdings: Kein Sklep in Sicht. Zur entspannten großen Pause fehlt Flüssiges. Meine Wasserflaschen sind schon länger leer getrunken und ich würde inzwischen jede Kittelschürze herzen, die mir was zu Trinken verkauft. Aber Pustekuchen. Statt dessen laufe ich an einer Galerie mit regionaler Kunst vorbei. Ugh! Weil es mir sowieso gerade an Flüssigkeit mangelt, fällt mir auf, daß ich den ach-so-berühmten See, um den ich gerade herumwandere, den ganzen Tag überhaupt nicht gesehen habe. Heute früh beim Loslaufen an der Promenade, ja -- aber seitdem? Erst kurz bevor ich wieder auf die verfluchte Landesstraße 16 treffe, sehe ich ganz kurz irgendwas ganz dahinten am Horizont glitzern.

Eigentlich letzte Chance für Getränke vor dem Ankommen: Okartowo. Es gibt einen Laden, aber aus mir im Nachhinein unerklärlichen Gründen lasse ich ihn links liegen, vielleicht weil ich mich noch etwas mehr aufs Ankommen freuen will. Als ich von der 16 abbiege, überholen mich von hinten zwei Reiseradler, grüßen freundlich und laut mit "Dień dobry!" über die Straße. Ich rufe zurück und fühle mich für die letzte Stunde motiviert. Drüben beim Sägewerk sitzen drei Großmütter auf der Bank im Schatten und gucken mir neugierig nach. Ich kann es mir nicht verkneifen, ihnen zuzuwinken, bevor ich im Wald verschwinde. Selbst auf die Entfernung kann ich sie noch Kichern sehen...

Der Motivations-Tiefpunkt folgt in Form eines Hinweisschildes für mein heutiges Übernachtungsetablissement. Ich habe übers Internet eine Übernachtung im "Panorama Lake Resort Uwe" gebucht, trotz des Namens. Es lag halt einfach am Nächsten, hat ein Restaurant und ganz gute Bewertungen. Uwe hat an der Kreuzung eine Werbetafel aufgestellt, die verspricht, daß es nur noch 1,3 km bis zu meinem Zimmer sind, aber mit einem Blick auf die Wanderkarte weiß ich, daß das gelogen ist. Es sind mindestens noch 4 Kilometer. Trotzdem sitzt die letzte Stunde ein kleiner Teufel in meinem Hirn, der mir ständig einreden will, daß meine Karte lügt und ich vielleicht doch schon hinter der nächsten Kurve am Ziel bin.

Mein Zimmer ist herrlich kühl und sonnenverbrannt wie ich heute bin, ziehe ich erstmal alle Vorhänge zu. Der geflieste Boden jagt mir wohlige Kälteschauer in die Füße und das Wasser aus dem Wasserhahn ist nach nur kurzem Laufenlassen so kalt, daß das Wasserglas an der Außenseite perlt. Nicht schwitzt, sondern perlt. Zu allem Überfluß gibt es eine Terrasse mit direktem Blick auf den See, der eher wie ein Meer wirkt.

Und es gibt tonnenweise Kroppzeug. Neben dem Wandschrank sehe ich aus den Augenwinkeln eine dicke Jagdspinne, draußen sind die Mücken wieder in ihrem Revier, und leider fehlt meinem Zimmer ein Fliegengitter am Fenster. Aber als ich gerade die Rolläden runterlassen will, sehe ich, daß es sich noch eine andere fette Spinne in meiner Wohneinheit gemütlich gemacht hat: Ihr Netz sitzt genau vor meinem gekippten Fenster. Obwohl ich nun wirklich kein Spinnenfan bin, beschließe ich, die doppelte Sicherung meiner Nachtruhe durch gleich zwei Spiderbros zu akzeptieren. Wenn eine Spinne auf das Fenster aufpasst und die andere das Innere des Zimmers übernimmt, wird das wohl in Ordnung gehen.

Bevor ich zum Essen rübergehe, hole ich nochmal tief Luft. Mich erwartet bestimmt ein verzweifelter Laden, der sich voll auf deutsche Touristen stürzt, um zu überleben. Aber es kommt alles anders. Statt dessen empfängt mich ein entspannter Uwe, der mit seiner polnischen Frau Grażyna seit 5 Jahren den Laden schmeißt, der Ton ist freundlich und familiär, es wird virtuos zwischen Polnisch und Deutsch gewechselt. Ich habe verraten, was ich hier gerade so mache und werde schnell zum Gesprächsthema Nummer 1 des Abends.

Die morgige Etappe hat eigentlich das Zeug dazu, ein kleiner Horrortrip zu werden. Ich habe keine passende Übernachtungsmöglichkeit gefunden und auch keine ordentliche Wanderkarte, um vielleicht ein paar passende Wege zu irgendwelchen Zeltplätzen an irgendwelchen Seen zu finden (nur die furchtbar grobe Comic-Wanderkarte, die ich in Mrągowo als Notvariante gekauft habe). Aber als sich Uwe mit einem Bier zu mir an den Tisch setzt (weil seine Frau schon am Nachbartisch sitzt), frage ich ihn einfach, ob er mich vielleicht morgen Nachmittag nach der Tour mit dem Auto abholen würde, so daß ich zwei Nächte hier bleiben kann. Knappe Antwort: Kein Problem, machen wir so.

Und der Abend ist gerettet. 

Ich trinke noch zwei Bier und bin genau rechtzeitig zurück in meinem Zimmer, um noch den Sonnenuntergang von meiner Terrasse aus zu fotografieren. Danach gehe ich schlafen, beschützt von meinen beiden Spiderbros.

Freitag, 27. Mai 2016

Tag 32: Sonntags-Gespräche.

Tag 32/39: Sonntag, 22.05.2016
Mrągowo nach Mikołajki
6 h / 25 km 

Es wird ein früher Start, wir sind sogar noch vor dem Gros der Rentner im Frühstücksraum. Was zu dem kleinen Triumph führt, daß wir den schönsten Tisch direkt am Schaufenster zum See für uns beanspruchen können. Aber nur 20 min später, ich hab mich aus Versehen mal kurz umgedreht, ist das Buffet plötzlich belagert von den Damen mit den praktischen Kurhaarfrisuren und den Herren mit den cremefarbenen Hosen.

Nina fliegt heute wieder zurück nach Berlin, vorher hat sie noch eine kleine Weltreise mit Marschrutka und dem Zug vor sich. Ich habe eine lockere Reisedispo erstellt, die allerdings den kleinen Schönheitsfehler beinhaltet, daß wir nicht so genau wissen, welcher Bus nach Olsztyn um welche Uhrzeit eigentlich wo genau abfährt. Also genießen wir auf dem Weg zur Bushaltestelle noch ein wenig Aufregung, während wir in der Morgensonne durch die leere Stadt trudeln. Aber es klappt alles vorzüglich, der Bus biegt pünktlich um die Ecke, ich werfe Ninas Rucksack in den Kofferraum, wir verabschieden uns kurz und schon ist sie wieder weg. Und ich stehe alleine an der Haltestelle, setze meinen Rucksack auf, drehe mich um und laufe wieder alleine Richtung Osten.

Die alte Landstraße raus aus der Stadt ist Gott sei Dank ein aufgegebener Patient, seit die neue Umgehungsstraße gebaut wurde. Müde und verwaist liegt der Asphalt im klaren Sonntagmorgen, der unmißverständlich klar macht, daß dies ein wirklich warmer Tag werden wird. Die Tankstelle am Ortsausgang hat geschlossen, das Shanghai-Restaurant im Baucontainer hat auch schon länger nicht mehr geöffnet, die Hunde auf den Grundstücken am Straßenrand verschlafen meist den stillen Wanderer, der jetzt wieder solo unterwegs ist. Irgendwie habe ich mich ja auch ein bißchen darauf gefreut, die Straße wieder für mich alleine zu haben, aber nach den entspannten Tagen mit Nina fühlen sich die ersten Stunden heute wirklich einsam an.

Auf der Schotterstraße nach Uzranki überhole ich eine ältere Dame im Sonntagsoutfit, die offensichtlich auf dem Weg in die Kirche ist. Im Dorf sehe ich Ministranten und kleine Grüppchen von gut angezogenen Dorfbewohnern - yep, die Zeit stimmt ungefähr für einen Sonntagvormittag. An der Kreuzung quatscht mich ein alter Mann mit Fahrrad an. Ich kein polnisch, er kein deutsch, aber es reicht aus, um ihm trotzdem meine Tour zu erklären. Er freut sich und schlägt lachend vor, daß ich doch lieber mit dem Fahrrad fahren sollte, aber ich zeige stolz auf meine Wanderstiefel. Als wir uns verabschieden, ruft er sofort seinen Nachbarn aus dem Garten herbei und erzählt ihm wahrscheinlich brühwarm, was er gerade für einen komischen Typen getroffen hat.

Gleich um die Ecke gerate ich in eine Gruppe älterer Kirchgängerinnen, die mir den besten Weg zeigen wollen. Daß ich nach Mikołajki will, haben sie irgendwie von selbst erraten, jetzt diskutieren sie ausgiebig mit mir, ob ich auf großen Straßen (Geste: breit) oder kleinen Straßen (Geste: Scharren mit dem Fuß im Sand) dorthin gelangen will. Ich nicke brav: "Tak, tak, Baranowo!" und husche dann verlogenerweise doch schnell um die Ecke und in eine andere Richtung, weil ich mir eigentlich schon einen anderen Weg zurechtgelegt habe.

Der Vormittag wird langsam zum Mittag, die Sonne scheint nach wie vor ohne Wolken vom Himmel. Links und rechts der Schotterstraße steht das Wasser in den Senken und verwandelt die Landschaft in einen Fleckenteppich aus Sumpf, Wiese und Feld. Auf der Straße gibt es kaum Schatten und ich schwitze inzwischen massiv im eigenen Saft. Perfekt wäre jetzt was zum Sitzen, bitte im Wind, im Schatten, vielleicht leicht erhöht auf einem großen Stein. Aber ich finde keine Stelle, die mich wirklich reizen würde, meinen Marsch zu unterbrechen. Außerdem sitze ich sowieso auf dem Trockenen - ausgerechnet heute habe ich viel zu wenig Wasser eingepackt, meine Flaschen sind schon längst leergetrunken.

Im übernächsten Dorf entdecke ich durch einen kleinen Moment der Aufmerksamkeit den wohl am besten getarnten Sklep der Welt. Durstig ziehe ich durch das Dorf, gerade kommt eine Frau mit einigen Joghurtbechern aus einem Haus. Huh? War sie da etwa einkaufen? Aber ich sehe kein Schild, keine weißen Plastik-Campingstühle, keine biertrinkenden Rentner, keinen einzigen Hinweis auf einen Sklep. Die Haustür steht offen, im Halbdunkel sehe ich die Umrisse einer Gefriertruhe und irgendetwas zieht mich magisch hinein. Ein kleiner Flur, links eine Art Dorfgemeinschaftsraum, rechts ein winziges Zimmer mit Regalen, davor eine Frau Mitte 40 und eine Kasse. Also doch! Auf den Regalen ist jeweils ein Exemplar der verfügbaren Waren ausgestellt, der eigentliche Einkauf wird nach Bekanntgabe der gewünschten Artikel von der Dame im Nebenraum zusammengestellt und anschließend auf den Tresen gewuchtet.

Mit allen Händen voller Getränke verlasse ich stolz den Laden und gleich 200 m weiter serviert mir das Schicksal an der Kreuzung ein Stück frisch gemähte Wiese, im Schatten, mit ausreichend Wind, dazu Aussicht in alle Himmelsrichtungen. Ich schmeiße mich ins Gras, entledige mich meiner Stiefel, trinke mir den Bauch mit den frisch erstandenen Getränken voll und döse so lange vor mich hin, bis mir irgendwie kalt wird. Zeit, um weiterzugehen.

Den Rest des Tages keuche ich über staubige Schotterpisten nach Südosten, der warme Sonntagnachmittag treibt Radler, Quadfahrer und den einen oder anderen deutschen Touristen an mir vorbei. Im nächsten Dorf kommt mir wieder ein alter Mann entgegen, diesmal mit Bierbüchse statt Fahrrad. Wieder ist es offensichtlich mein Rucksack, der Aufsehen erregt. Mein Tun und Wohin sind schnell erklärt, denn er spricht ziemlich gut Deutsch und als wir schon beide wieder 20 Meter weitergelaufen sind, ruft er mir nochmal zu: "He, willst du Bier?!" und winkt mit einer zweiten Büchse Specjal, die er eben aus seinem Rucksack gezogen hat. Lachend lehne ich ab, mir würde wahrscheinlich sofort der Kopf explodieren, wenn ich in dieser Hitze ein Bier trinken würde, um dann noch die restlichen Kilometer zu laufen.

Kurz vor dem Ziel ist ein Todesstern in Form eines riesigen Hotelkomplexes auf dem Acker gelandet: Das Hotel Golebiewski. Mit Außenanlagen nimmt es gefühlt den halben Horizont ein, inklusive Poollandschaft, Skilift (für die Mountainbike-Abfahrt oder wirklich für den Winter?), endlosen Parkplätzen und kilometerlangen Zäunen. Ein All-Inclusive-Schuppen mit wahrscheinlich tausenden Zimmern. Leicht schaudernd reihe mich auf der 16 in den Verkehr Richtung Mikołajki ein, zwischen all die Urlauber, Harley-Touristen und Flanierer.

Auf meine Unterkunft heute Abend hatte ich mich eigentlich gefreut: Ein italienisches Restaurant mit Zimmervermietung. Aber erst vor Ort merke ich, daß es im hastig hochgezogenen "neuen Zentrum" liegt, zwischen dem schrottigen Marktplatz und der Straße mit den verzweifelt/wütend blinkenden Reklameschildern. Es soll wahrscheinlich eine Fußgängerzone sein, statt dessen ist es ein schmales Rattenloch, das nur dazu dient, die ahnungslosen Touristen links und rechts besser in die Kneipen und Restaurants ziehen zu können.

Und heute falle ich gleich mit rein. Ich finde das Bella Italia, folge brav dem Schild zur Rezeption um die Ecke und stehe in einem leeren Pub. Der Typ hinterm Tresen weiß nix von einer Reservierung, bietet mir aber ein Zimmer für 220 PLN an. Als ich ihm den Preis aufschreibe, zu dem ich im Internet gebucht habe - 130 PLN - macht er noch ein paar Faxen, daß er - najaaa - erstmal mit dem Chef drüber sprechen müsste. Aber kurz darauf sind ihm dann die 130 PLN doch irgendwie recht und er führt mich durch ein schrottiges Treppenhaus in ein schrottiges Zimmer, in dem gerade einmal das schmale Bett Platz gefunden hat. Ich setze meinen Rucksack ab, gucke mich noch zweimal um, schaue mir nochmal im Netz die Fotos meiner Unterkunft an -- und irgendwie hat das nichts gemeinsam. Ich bin im falschen Laden gelandet...

Also wieder runter, Irrtum aufklären, Schlüssel abgeben. Der Typ grinst zuckerfreundlich, ich denke mir beim Rausgehen noch grimmig, daß selbst 100 PLN für diese Kammer zu teuer gewesen wären. Nebenan ist der Laden etwas netter, aber auch nur ein bißchen. Ich merke wieder, daß ich dringend aus dieser touristischen Gegend raus muß, raus auf's Dorf, wo man wieder seine Ruhe hat...

Donnerstag, 26. Mai 2016

Ein paßgenauer Zufallsfund.

Gesehen in der Buchhandlung Książnica Polska in Mrągowo, wo es Wanderkarten von Zypern gibt, aber keine aus der unmittelbaren Umgebung...


Pausentag mit Vergnügungswandern.

Tag x/38: Samstag, 21.05.2016
5,5 h / 23 km

Trotz allgemeinem Wehklagen und Stöhnen haben wir uns heute für einen Wandertag im Pausentag entschieden. So richtig nach Osten Weiterlaufen wäre doof, weil Nina dann morgen Vormittag Schwierigkeiten hätte, bei den mickrigen Busverbindungen hier in der Gegend noch rechtzeitig zum Flugplatz Szymany zu kommen. Also lassen wir den Großteil des Gepäcks im Hotel und drehen eine kleine Runde -- soweit Mrągowo das halt zulässt.

Gestern Abend ist mir aufgefallen, daß mir eine Wanderkarte fehlt. Trotz aller Planung und Recherche fehlen mir aus irgendeinem Grund ungefähr zwei Tagesmärsche Karte in der Gegend von Ełk, wo ich eigentlich in einigen Tagen sein wollte. Also entern wir die örtliche Buchhandlung, aber Fehlanzeige. Es gibt viel Tinneff, Autoatlanten und Schmökerbücher, Stadtpläne und Wanderkarten von Zypern, aber interessanterweise keine Karten aus der Region. 

Also entsorgen wir statt dessen im Park Ninas entkräftete Wanderstiefel in einem idyllisch gelegenen Mülleimer. Dann schnell raus aus diesem schrillen Ort. Leider gelingt es uns dabei, den denkbar häßlichsten Weg einzuschlagen: Hart vorbei am Plac Handlowe, mit schrägen Buden auf staubigem Untergrund und kobernden Verkäufern, die auf verschüchterte Touristen lauern.

Wir ziehen nach Norden, durch lose Straßendörfer und kleine Waldstücke. Es wird warm, so um die 25° -- aber dazu weht auf dem Feld ein stetiger Wind, der das Ganze sehr angenehm macht. Wir gönnen uns eine kleine Pause im Bushäuschen, staunen über den Verkehr auf der Dorfstraße und sind froh, endlich in den Wald abbiegen zu können. Offensichtlich machen auch die Mücken irgendwie Wochenende, wir kommen nahezu unbelästigt bis Kiersztanowo.

Dort gibt es gegenüber vom Sklep eine Bank im Schatten. Neben uns der kleine Bach, der die beiden Seen links und rechts verbindet. Es wird Rasen gemäht, weiter hinten sitzt die Dorfjugend entspannt beim Eis auf dem Steg, eine Mutti stellt sich mit ihrer Angel neben uns auf die Brücke und versucht ihr Glück. Dorfzufriedenheit am Wochenende. Die deutschen Touristen schlendern vorbei, die wir eben auf dem Feld beim Pferde beobachten beobachtet haben.

Zurück in Mrągowo kommen wir halb zufällig bei Kaufland vorbei, drinnen ist es wunderbar kühl und es gibt sogar einen kleinen Aufsteller mit Karten. Ich finde eine viel zu grobe Karte, die dazu noch fast aussieht wie eine Comiczeichnung -- aber wenigstens bildet sie die fehlende Ecke ab und ich muß nicht zwei Tage mit dem Handy vor der Nase Wandern. Und weil wir uns jetzt sowieso an der Kasse anstellen müssen, kaufe ich mir halt noch ein Eis zur Karte, und schon ist der Onkel zufrieden.

Wir gönnen uns eine kleine Nachmittagssiesta und stellen übereinstimmend fest, daß wir froh sind, den freien Tag nicht im häßlichen Mrągowo oder in unserem noch häßlicheren Hotel verbracht zu haben. Später essen wir ein schickes Rouladen-Abendessen im riesigen Gasthaus am See; fragen uns, wo die Kaufland-Ladies wohl gerade sind und schlendern entspannt zurück ins Hotel, wo heute Abend leider keine Faria-faria-ho-Veranstaltung läuft. Die Bustouristen bevölkern statt dessen das Hotelrestaurant und den Fußball-Fernseher in der Lobby. Bayern gegen Dochtmund. Willkommen dahoam.