Freitag, 27. Mai 2016

Tag 32: Sonntags-Gespräche.

Tag 32/39: Sonntag, 22.05.2016
Mrągowo nach Mikołajki
6 h / 25 km 

Es wird ein früher Start, wir sind sogar noch vor dem Gros der Rentner im Frühstücksraum. Was zu dem kleinen Triumph führt, daß wir den schönsten Tisch direkt am Schaufenster zum See für uns beanspruchen können. Aber nur 20 min später, ich hab mich aus Versehen mal kurz umgedreht, ist das Buffet plötzlich belagert von den Damen mit den praktischen Kurhaarfrisuren und den Herren mit den cremefarbenen Hosen.

Nina fliegt heute wieder zurück nach Berlin, vorher hat sie noch eine kleine Weltreise mit Marschrutka und dem Zug vor sich. Ich habe eine lockere Reisedispo erstellt, die allerdings den kleinen Schönheitsfehler beinhaltet, daß wir nicht so genau wissen, welcher Bus nach Olsztyn um welche Uhrzeit eigentlich wo genau abfährt. Also genießen wir auf dem Weg zur Bushaltestelle noch ein wenig Aufregung, während wir in der Morgensonne durch die leere Stadt trudeln. Aber es klappt alles vorzüglich, der Bus biegt pünktlich um die Ecke, ich werfe Ninas Rucksack in den Kofferraum, wir verabschieden uns kurz und schon ist sie wieder weg. Und ich stehe alleine an der Haltestelle, setze meinen Rucksack auf, drehe mich um und laufe wieder alleine Richtung Osten.

Die alte Landstraße raus aus der Stadt ist Gott sei Dank ein aufgegebener Patient, seit die neue Umgehungsstraße gebaut wurde. Müde und verwaist liegt der Asphalt im klaren Sonntagmorgen, der unmißverständlich klar macht, daß dies ein wirklich warmer Tag werden wird. Die Tankstelle am Ortsausgang hat geschlossen, das Shanghai-Restaurant im Baucontainer hat auch schon länger nicht mehr geöffnet, die Hunde auf den Grundstücken am Straßenrand verschlafen meist den stillen Wanderer, der jetzt wieder solo unterwegs ist. Irgendwie habe ich mich ja auch ein bißchen darauf gefreut, die Straße wieder für mich alleine zu haben, aber nach den entspannten Tagen mit Nina fühlen sich die ersten Stunden heute wirklich einsam an.

Auf der Schotterstraße nach Uzranki überhole ich eine ältere Dame im Sonntagsoutfit, die offensichtlich auf dem Weg in die Kirche ist. Im Dorf sehe ich Ministranten und kleine Grüppchen von gut angezogenen Dorfbewohnern - yep, die Zeit stimmt ungefähr für einen Sonntagvormittag. An der Kreuzung quatscht mich ein alter Mann mit Fahrrad an. Ich kein polnisch, er kein deutsch, aber es reicht aus, um ihm trotzdem meine Tour zu erklären. Er freut sich und schlägt lachend vor, daß ich doch lieber mit dem Fahrrad fahren sollte, aber ich zeige stolz auf meine Wanderstiefel. Als wir uns verabschieden, ruft er sofort seinen Nachbarn aus dem Garten herbei und erzählt ihm wahrscheinlich brühwarm, was er gerade für einen komischen Typen getroffen hat.

Gleich um die Ecke gerate ich in eine Gruppe älterer Kirchgängerinnen, die mir den besten Weg zeigen wollen. Daß ich nach Mikołajki will, haben sie irgendwie von selbst erraten, jetzt diskutieren sie ausgiebig mit mir, ob ich auf großen Straßen (Geste: breit) oder kleinen Straßen (Geste: Scharren mit dem Fuß im Sand) dorthin gelangen will. Ich nicke brav: "Tak, tak, Baranowo!" und husche dann verlogenerweise doch schnell um die Ecke und in eine andere Richtung, weil ich mir eigentlich schon einen anderen Weg zurechtgelegt habe.

Der Vormittag wird langsam zum Mittag, die Sonne scheint nach wie vor ohne Wolken vom Himmel. Links und rechts der Schotterstraße steht das Wasser in den Senken und verwandelt die Landschaft in einen Fleckenteppich aus Sumpf, Wiese und Feld. Auf der Straße gibt es kaum Schatten und ich schwitze inzwischen massiv im eigenen Saft. Perfekt wäre jetzt was zum Sitzen, bitte im Wind, im Schatten, vielleicht leicht erhöht auf einem großen Stein. Aber ich finde keine Stelle, die mich wirklich reizen würde, meinen Marsch zu unterbrechen. Außerdem sitze ich sowieso auf dem Trockenen - ausgerechnet heute habe ich viel zu wenig Wasser eingepackt, meine Flaschen sind schon längst leergetrunken.

Im übernächsten Dorf entdecke ich durch einen kleinen Moment der Aufmerksamkeit den wohl am besten getarnten Sklep der Welt. Durstig ziehe ich durch das Dorf, gerade kommt eine Frau mit einigen Joghurtbechern aus einem Haus. Huh? War sie da etwa einkaufen? Aber ich sehe kein Schild, keine weißen Plastik-Campingstühle, keine biertrinkenden Rentner, keinen einzigen Hinweis auf einen Sklep. Die Haustür steht offen, im Halbdunkel sehe ich die Umrisse einer Gefriertruhe und irgendetwas zieht mich magisch hinein. Ein kleiner Flur, links eine Art Dorfgemeinschaftsraum, rechts ein winziges Zimmer mit Regalen, davor eine Frau Mitte 40 und eine Kasse. Also doch! Auf den Regalen ist jeweils ein Exemplar der verfügbaren Waren ausgestellt, der eigentliche Einkauf wird nach Bekanntgabe der gewünschten Artikel von der Dame im Nebenraum zusammengestellt und anschließend auf den Tresen gewuchtet.

Mit allen Händen voller Getränke verlasse ich stolz den Laden und gleich 200 m weiter serviert mir das Schicksal an der Kreuzung ein Stück frisch gemähte Wiese, im Schatten, mit ausreichend Wind, dazu Aussicht in alle Himmelsrichtungen. Ich schmeiße mich ins Gras, entledige mich meiner Stiefel, trinke mir den Bauch mit den frisch erstandenen Getränken voll und döse so lange vor mich hin, bis mir irgendwie kalt wird. Zeit, um weiterzugehen.

Den Rest des Tages keuche ich über staubige Schotterpisten nach Südosten, der warme Sonntagnachmittag treibt Radler, Quadfahrer und den einen oder anderen deutschen Touristen an mir vorbei. Im nächsten Dorf kommt mir wieder ein alter Mann entgegen, diesmal mit Bierbüchse statt Fahrrad. Wieder ist es offensichtlich mein Rucksack, der Aufsehen erregt. Mein Tun und Wohin sind schnell erklärt, denn er spricht ziemlich gut Deutsch und als wir schon beide wieder 20 Meter weitergelaufen sind, ruft er mir nochmal zu: "He, willst du Bier?!" und winkt mit einer zweiten Büchse Specjal, die er eben aus seinem Rucksack gezogen hat. Lachend lehne ich ab, mir würde wahrscheinlich sofort der Kopf explodieren, wenn ich in dieser Hitze ein Bier trinken würde, um dann noch die restlichen Kilometer zu laufen.

Kurz vor dem Ziel ist ein Todesstern in Form eines riesigen Hotelkomplexes auf dem Acker gelandet: Das Hotel Golebiewski. Mit Außenanlagen nimmt es gefühlt den halben Horizont ein, inklusive Poollandschaft, Skilift (für die Mountainbike-Abfahrt oder wirklich für den Winter?), endlosen Parkplätzen und kilometerlangen Zäunen. Ein All-Inclusive-Schuppen mit wahrscheinlich tausenden Zimmern. Leicht schaudernd reihe mich auf der 16 in den Verkehr Richtung Mikołajki ein, zwischen all die Urlauber, Harley-Touristen und Flanierer.

Auf meine Unterkunft heute Abend hatte ich mich eigentlich gefreut: Ein italienisches Restaurant mit Zimmervermietung. Aber erst vor Ort merke ich, daß es im hastig hochgezogenen "neuen Zentrum" liegt, zwischen dem schrottigen Marktplatz und der Straße mit den verzweifelt/wütend blinkenden Reklameschildern. Es soll wahrscheinlich eine Fußgängerzone sein, statt dessen ist es ein schmales Rattenloch, das nur dazu dient, die ahnungslosen Touristen links und rechts besser in die Kneipen und Restaurants ziehen zu können.

Und heute falle ich gleich mit rein. Ich finde das Bella Italia, folge brav dem Schild zur Rezeption um die Ecke und stehe in einem leeren Pub. Der Typ hinterm Tresen weiß nix von einer Reservierung, bietet mir aber ein Zimmer für 220 PLN an. Als ich ihm den Preis aufschreibe, zu dem ich im Internet gebucht habe - 130 PLN - macht er noch ein paar Faxen, daß er - najaaa - erstmal mit dem Chef drüber sprechen müsste. Aber kurz darauf sind ihm dann die 130 PLN doch irgendwie recht und er führt mich durch ein schrottiges Treppenhaus in ein schrottiges Zimmer, in dem gerade einmal das schmale Bett Platz gefunden hat. Ich setze meinen Rucksack ab, gucke mich noch zweimal um, schaue mir nochmal im Netz die Fotos meiner Unterkunft an -- und irgendwie hat das nichts gemeinsam. Ich bin im falschen Laden gelandet...

Also wieder runter, Irrtum aufklären, Schlüssel abgeben. Der Typ grinst zuckerfreundlich, ich denke mir beim Rausgehen noch grimmig, daß selbst 100 PLN für diese Kammer zu teuer gewesen wären. Nebenan ist der Laden etwas netter, aber auch nur ein bißchen. Ich merke wieder, daß ich dringend aus dieser touristischen Gegend raus muß, raus auf's Dorf, wo man wieder seine Ruhe hat...

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