Mikolaiki nach Nowe Guty
6,5 h / 29 km
"Bloß raus hier." Das ist alles, was ich heute früh im Kopf habe. Das Bett in meinem Zimmer war schlimm, eine 10 cm dicke Schaumstoffplatte auf knallharten Holzlatten. Durch das Laken scheint ein fetter Blutfleck auf der Matratze. Irgendwann in dieser schlaflosen Nacht habe ich einen Rappel bekommen und das zweite Bett in meinem Zimmer auseinandergenommen, um mir mit der zweiten Matratze und dem Bettzeug als zusätzliche Polsterung wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu stehlen.
Entsprechend genervt starte ich in den Tag. Wieder warm, wieder bis zu 27° angesagt. Der nächste Sklep liegt praktischerweise gleich gegenüber, ich decke mich mit Getränken ein und verliere kurz darauf erstmal meine Mütze. Kurze Panik, sofortiges Umdrehen und Zurücklaufen, aber ein freundlicher Mitmensch hat die Kappe schon gefunden und zum Finden an einen Pfosten gehängt. Uff!
Aber der Murks geht weiter. Statt den richtigen Weg aus der Stadt raus zu nehmen, nehme ich den falschen, weil ich zu stolz bin, auf die Karte zu gucken. Dafür lande ich überraschenderweise schick am Wasser und kann an der Uferpromenade entlanggehen, die aber in einer Sackgasse endet. Also marschmarsch zurück. Den ersten Kilometer Umweg habe ich also schon auf der Uhr, obwohl ich noch keine Stunde unterwegs bin. Gott sei Dank klappt wenigstens die Abkürzung, mit der ich mich wieder auf den richtigen Weg retten will: Vorbei an der sozialistischen Wohnanlage, durch den dazugehörigen Kleingärten und den Garagenhof, immer knapp an der Schweinemastanlage entlang. Endlich auf dem richtigen Weg kann ich den Kopf abschalten: Die nächsten Stunden geht es ganz entspannt immer nur geradeaus. Eigentlich laufe ich den ganzen Tag entlang des Jezioro Śniardwy, dem größten See der Masurischen Seenplatte.
Ein Auto kommt von hinten angefahren und wird langsamer, ein junges Paar fragt mich, ob sie mich ein Stück mitnehmen sollen. Ich ringe schwer mit mir, bleibe aber standhaft. Später am Tag wäre ich vielleicht schwach geworden, aber es ist gerade mal Mittag. Und überhaupt! Und tatsächlich sehe ich ihre Auto nur gute zwei Kilometer weiter an der See-Gaststätte auf dem Parkplatz stehen. Ich entschließe mich spontan zu zwei kalten Mittagsgetränken, um meine Flüssigkeitsvorräte im Rucksack zu schonen, setze mich auf die Terrasse des alten Gutshauses und blinzele in die Sonne. Für den Aussichtsturm am See bin ich zu geizig (30 PLN...), auch wenn der sicherlich einen klasse Blick präsentiert hätte.
Statt dessen ziehe ich weiter auf dem halb gepflasterten Rumpelweg Richtung Osten, durch sumpfiges Gelände, links und rechts des Weges undurchdringliches Dickicht. Es dauert nicht lange, bis mich die Mücken entdeckt haben. Und zwar so richtig! Schöner schattiger Wald, feuchter Boden, kein Wind: Der optimale Platz für die Biester. Das optimale Opfer für die Biester: Der Wanderer, der sich weigert, lange Klamotten anzuziehen und vergessen hat, sich wenigstens mit Autan o.ä. einzuschmieren. Erst sind es nur ein paar Mücken, die hinter mir herschwirren, aber alle paar hundert Meter wird der Pulk größer. Jedesmal, wenn ich einen Arm aus Versehen nach hinten schlenkere, kann ich förmlich in den Schwarm hineingreifen. Mein Schritt wird unwillkürlich schneller und ich kriege Gänsehaut -- was die Biester natürlich nur noch heißer macht. Mehr Schweiß, mehr Hautoberfläche. Ich kann gar nicht so schnell draufhauen, wie die Mücken zustechen, stehenbleiben will ich in dieser Situation aber bestimmt auch nicht. Links ein alter deutscher Bunker neben der Straße, ja danke, ist mir heute wurscht. Ein verwackeltes Foto kriege ich im Laufen noch hin, aber eine ausführliche taktische Geländeanalyse muß leider ausfallen. Rechts ein Picknickplatz, liebevoll vom örtlichen Forstamt in Schuß gehalten. Nö danke, ich muß weiter, kann nicht stehen bleiben. Ich schätze den Schwarm meiner persönlichen Begleiter inzwischen auf ca. 200 Exemplare, bis irgendwann! endlich! nach einer Ewigkeit! eine Waldlichtung auftaucht. Direkte Sonne, etwas Wind, und sofort ist der Spuk vorbei. Ich werfe den Rucksack ab, dusche förmlich in Autan, habe zwar danach immer noch dieselbe Horde hinter mir, aber sie halten etwas mehr Abstand.
Zwei Kilometer weiter ist der Wald zu Ende, ich mache einen Wanderkarten-/Uhrenvergleich und stelle fest: So schnell bin ich wahrscheinlich noch nie 5 km gewandert. Ich brate zwar ab sofort in der Sonnenhitze des frühen Nachmittages, aber dafür ist es hier so schön windig, daß ich erstmal mit ausgebreiteten Armen am Feldrand stehe und glücklich den kühlenden Luftzug genieße.
Der Schulbus staubt mir auf der Schotterpiste entgegen, ich denke schon darüber nach, ob der wohl gleich wieder zurückkommt und mich ein Stück mitnehmen wil? Gott sei Dank tut er es nicht und ich komme nicht in Versuchung.
Der Schulbus staubt mir auf der Schotterpiste entgegen, ich denke schon darüber nach, ob der wohl gleich wieder zurückkommt und mich ein Stück mitnehmen wil? Gott sei Dank tut er es nicht und ich komme nicht in Versuchung.
Statt dessen drei Stunden Landstraße und immer vorwärts. Hört sich vielleicht schlimm an, ist heute aber tatsächlich herrlich. Zwischen den Dörfern entspannte Kühe, in den Dörfern alte Bauersfrauen, die sich mit ihren Männern zanken. Die Straße ist gesäumt von riesigen alten Alleebäumen, die einen schattigen Tunnel werfen und gleichzeitig genug Wind durchlassen, so daß man wohlig kühl darunter durchwandern kann. Autos kommen vielleicht so alle halbe Stunde mal, manchmal auch gar nicht.
Allerdings: Kein Sklep in Sicht. Zur entspannten großen Pause fehlt Flüssiges. Meine Wasserflaschen sind schon länger leer getrunken und ich würde inzwischen jede Kittelschürze herzen, die mir was zu Trinken verkauft. Aber Pustekuchen. Statt dessen laufe ich an einer Galerie mit regionaler Kunst vorbei. Ugh! Weil es mir sowieso gerade an Flüssigkeit mangelt, fällt mir auf, daß ich den ach-so-berühmten See, um den ich gerade herumwandere, den ganzen Tag überhaupt nicht gesehen habe. Heute früh beim Loslaufen an der Promenade, ja -- aber seitdem? Erst kurz bevor ich wieder auf die verfluchte Landesstraße 16 treffe, sehe ich ganz kurz irgendwas ganz dahinten am Horizont glitzern.
Eigentlich letzte Chance für Getränke vor dem Ankommen: Okartowo. Es gibt einen Laden, aber aus mir im Nachhinein unerklärlichen Gründen lasse ich ihn links liegen, vielleicht weil ich mich noch etwas mehr aufs Ankommen freuen will. Als ich von der 16 abbiege, überholen mich von hinten zwei Reiseradler, grüßen freundlich und laut mit "Dień dobry!" über die Straße. Ich rufe zurück und fühle mich für die letzte Stunde motiviert. Drüben beim Sägewerk sitzen drei Großmütter auf der Bank im Schatten und gucken mir neugierig nach. Ich kann es mir nicht verkneifen, ihnen zuzuwinken, bevor ich im Wald verschwinde. Selbst auf die Entfernung kann ich sie noch Kichern sehen...
Der Motivations-Tiefpunkt folgt in Form eines Hinweisschildes für mein heutiges Übernachtungsetablissement. Ich habe übers Internet eine Übernachtung im "Panorama Lake Resort Uwe" gebucht, trotz des Namens. Es lag halt einfach am Nächsten, hat ein Restaurant und ganz gute Bewertungen. Uwe hat an der Kreuzung eine Werbetafel aufgestellt, die verspricht, daß es nur noch 1,3 km bis zu meinem Zimmer sind, aber mit einem Blick auf die Wanderkarte weiß ich, daß das gelogen ist. Es sind mindestens noch 4 Kilometer. Trotzdem sitzt die letzte Stunde ein kleiner Teufel in meinem Hirn, der mir ständig einreden will, daß meine Karte lügt und ich vielleicht doch schon hinter der nächsten Kurve am Ziel bin.
Mein Zimmer ist herrlich kühl und sonnenverbrannt wie ich heute bin, ziehe ich erstmal alle Vorhänge zu. Der geflieste Boden jagt mir wohlige Kälteschauer in die Füße und das Wasser aus dem Wasserhahn ist nach nur kurzem Laufenlassen so kalt, daß das Wasserglas an der Außenseite perlt. Nicht schwitzt, sondern perlt. Zu allem Überfluß gibt es eine Terrasse mit direktem Blick auf den See, der eher wie ein Meer wirkt.
Und es gibt tonnenweise Kroppzeug. Neben dem Wandschrank sehe ich aus den Augenwinkeln eine dicke Jagdspinne, draußen sind die Mücken wieder in ihrem Revier, und leider fehlt meinem Zimmer ein Fliegengitter am Fenster. Aber als ich gerade die Rolläden runterlassen will, sehe ich, daß es sich noch eine andere fette Spinne in meiner Wohneinheit gemütlich gemacht hat: Ihr Netz sitzt genau vor meinem gekippten Fenster. Obwohl ich nun wirklich kein Spinnenfan bin, beschließe ich, die doppelte Sicherung meiner Nachtruhe durch gleich zwei Spiderbros zu akzeptieren. Wenn eine Spinne auf das Fenster aufpasst und die andere das Innere des Zimmers übernimmt, wird das wohl in Ordnung gehen.
Bevor ich zum Essen rübergehe, hole ich nochmal tief Luft. Mich erwartet bestimmt ein verzweifelter Laden, der sich voll auf deutsche Touristen stürzt, um zu überleben. Aber es kommt alles anders. Statt dessen empfängt mich ein entspannter Uwe, der mit seiner polnischen Frau Grażyna seit 5 Jahren den Laden schmeißt, der Ton ist freundlich und familiär, es wird virtuos zwischen Polnisch und Deutsch gewechselt. Ich habe verraten, was ich hier gerade so mache und werde schnell zum Gesprächsthema Nummer 1 des Abends.
Die morgige Etappe hat eigentlich das Zeug dazu, ein kleiner Horrortrip zu werden. Ich habe keine passende Übernachtungsmöglichkeit gefunden und auch keine ordentliche Wanderkarte, um vielleicht ein paar passende Wege zu irgendwelchen Zeltplätzen an irgendwelchen Seen zu finden (nur die furchtbar grobe Comic-Wanderkarte, die ich in Mrągowo als Notvariante gekauft habe). Aber als sich Uwe mit einem Bier zu mir an den Tisch setzt (weil seine Frau schon am Nachbartisch sitzt), frage ich ihn einfach, ob er mich vielleicht morgen Nachmittag nach der Tour mit dem Auto abholen würde, so daß ich zwei Nächte hier bleiben kann. Knappe Antwort: Kein Problem, machen wir so.
Und der Abend ist gerettet.
Ich trinke noch zwei Bier und bin genau rechtzeitig zurück in meinem Zimmer, um noch den Sonnenuntergang von meiner Terrasse aus zu fotografieren. Danach gehe ich schlafen, beschützt von meinen beiden Spiderbros.
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