Montag, 9. Mai 2016

Tag 17: In der Strafkolonie.

Tag 17/21: Mittwoch, 04.05.2016
9 h / 37 km
Sępólno Krajeńskie nach Zelt (Nähe Zamrzenica)

Es hat die Nacht durchgeregnet, das wird mir am Frühstückstisch klar. Auf dem Tisch nebenan liegt eine klatschnasse Tischdecke, aber die Ursache dafür wird mir erst klar, als mir selber das Wasser von der Decke des Wintergartens auf den Kopf tropft. Ok, dann wechsele ich eben den Platz...

Für die Vorfreude auf den heutigen Tag ist das Wetter natürlich nur mittelgut geeignet. Wieder habe ich kein festes Quartier für heute Abend und die Aussicht darauf, das Zelt im nassen Wald aufzubauen, ist nur mäßig anschmiegsam. Also suche ich mir noch schnell ein paar Alternativen raus, die ich zur Not abklappern könnte. Als da wären: Eine Campinghüttenvermietung am Fluß. Ein Feriendorf auf einer Halbinsel, das mehr oder weniger vom polnischen Justizministerium betrieben wird und dessen Personal offensichtlich durchgehend aus Strafgefangenen besteht, quasi ein Wiedereingliederungsprojekt (ach so, daher die Halbinsel...). Und eine private Zimmervermietung weiter östlich in einem Ort, der weder auf meiner Strecke noch in meiner groben Richtung liegt. Naja, wird schon irgendwie werden...

Erstmal kostet mich das Loslaufen in den Regen hinaus richtig Kraft. Im Ort stürme ich noch schnell den Polo Market und decke mich mit Getränken und Süßkram ein. Auf was Ordentliches für Abendessen und Frühstück für den Fall, daß ich doch im Zelt übernachten werde, verzichte ich aus Faulheitsgründen. Um den Murksfaktor weiter zu erhöhen, verläßt mich kurzzeitig mein Orientierungssinn und ich laufe erstmal einen unfreiwilligen Rundkurs komplett durch die Stadt, bevor ich endlich auf dem Feld stehe. Kragen hochgestellt, Scheuklappen auf und Vollgas. Strecke machen, was anderes hilft bei diesem Wetter sowieso nicht.

Zwei Stunden laufe ich im strömenden Regen. Über einsame Feldwege, vorbei an einzelnen Häusern, die jeweils 2-3 km von ihren nächsten Nachbarn entfernt sind. Durch erstarrte Dörfer, in denen sich nicht mal eine Gardine regt, während ich hindurch laufe. Jedesmal, wenn ich durch ein kleines Waldstück komme, schwillt der Regen zu einem ohrenbetäubenden Rauschen an, so daß der Schritt wieder raus aufs Feld eine Erleichterung ist. Nicht, daß es da weniger regnen würde -- es hört sich nur einfach nach weniger an.

Die einzigen Sitzgelegenheiten weit und breit sind die zwei Bänke vor der Marienstatue an der Kreuzung zweier leerer Landstraßen. Aber ich kann mich nicht dazu überwinden, im Regen sitzend Pause zu machen. Eine halbe Stunde später serviert mir das Glück dafür ein Bushäuschen, mit trockener Holzbank und perfekter Ausrichtung, die Wind und Regen aussperrt. Landschaftsmöblierung kann so schön sein (in diesem Fall übrigens powered by EU...)!

Am frühen Nachmittag wird es langsam trocken und irgendwann kommt die Sonne raus. Ich habe in den vergangenen Stunden im Scheuklappenmodus ordentlich Strecke gemacht, so daß ich zwar inzwischen 25 km gelaufen bin, meine Kraftreserven für heute sich aber noch lange nicht erschöpft anfühlen. Aufgehellt wird die Stimmung auch durch die Aussicht. Nach zwei Tagen, die ich mehr oder weniger durch unspannende Feldlandschaft gelaufen bin, sehe ich am Horizont endlich wieder richtigen Wald: Die Bory Tucholskie (die Tucheler Heide), ein riesiges Waldgebiet mit Nationalpark, Flußlandschaften, verwunschenen Seen und allerlei ähnlich schicker Dinge.

Der letzte Ort vor dem Wald ist Pruszcz, dort laufe ich erstmal an einem Sklep vorbei und drehe sofort wieder um. Du kaufst dir jetzt erstmal was Schönes ein. Eine halbe Stunde später sitze ich am Waldrand auf einem Picknickplatz, habe meine nassen Klamotten in die Sonne gehängt und esse wunderbar schwere Streuselteilchen mit Zuckerguß, gluckere 1,5 Liter des guten Mineralwassers mit extra viel Kohlensäure runter und kann kaum glauben, das dieser schöne Nachmittag noch zum gleichen Tag gehört wie der miese Morgen.

Das Abenteuer wartet währenddessen einige Kilometer weiter. Im Wald fließt die Brda, die sich immer wieder zu langgestreckten Seen ausweitet. Die einzige Möglichkeit weit und breit, auf die andere Seite zu kommen, ist eine alte Brücke mitten im Wald, über die früher mal eine Bahnlinie führte. Beruhigenderweise ist auf meiner Wanderkarte sogar ein Wanderweg über diese Brücke eingezeichnet. Ich folge dem Bahndamm, auf dem offenbar noch das alte russische Breitspurgleis liegt, verwuchert und mit Bäumen überwachsen. An der Brücke dann ein Zaun und ein einschlägiges Schild, dessen polnische Aufschrift ich mir nicht zu übersetzen brauche. Na super: Die nächste Möglichkeit, auf die andere Seite zu kommen, bedeutet mindestens 12 km Umweg -- und das auch nur, wenn die in meiner Karte eingezeichnete Kahnfähre auch wirklich existieren würde.

Ich bin ja sonst ein Schisser, aber dieses Verbotsschild muß leider ignoriert werden. Ich wuchte den Rucksack über den Zaun, lege eine kleine Kletterpartie an der Außenseite des Geländers hin und balanciere über die alten Eisenbahnschwellen auf die andere Seite. Die dortige Absperrung hat netterweise schon jemand für mich aus der Verankerung gerissen. Die Aussicht auf der Brücke allerdings ist fantastisch. Links und rechts nur Wasser, Ufer und Wald, soweit das Auge reicht. Keine Straße, kein Haus, nix.




Drüben angekommen kann ich einfach auf der alten Bahntrasse weiterlaufen, die Schwellen und Schienen wurden erst kürzlich mit schwerem Gerät herausgerissen. Währenddessen mache ich mir Gedanken darüber, wo bzw. wie ich heute eigentlich übernachten will. Das Wetter hat ja überraschenderweise nochmal vollkommen ins Positive gedreht (was für Zelten spricht), aber ich hätte Lust auf eine Dusche und ein richtiges Bett. Und auf eine Möglichkeit, meine Sachen richtig zu trocknen, die nach den 2 h Regen von heute Vormittag immer noch leicht matschig sind.

Ich fasse mir ein Herz und rufe in der Strafkolonie an. Die liegt auf einer Halbinsel, bis dahin ist es nicht allzu weit, aber wenn ich da jetzt umsonst hinlaufe und dann wieder den gleichen Weg wieder zurück muß, bin ich trotzdem fast eine Stunde unterwegs. Also lieber am Telefon zum Deppen machen. Allerdings - in der Strafkolonie antwortet der Anrufbeantworter und es hört sich nicht so an, als wären sie heute großartig auf spontane Übernachtungsgäste eingestellt. Man solle wohl ein Fax senden. Also weiter nach Zamrzenica. Irgendwie spüre ich, daß ich mir die letzten 4-5 km schon noch irgendwie aus den Kniekehlen kratzen werde, und Zamrzenica liegt sowieso insgesamt in der richtigen Richtung. Dann ist der Tag morgen halt etwas kürzer; soll mir auch recht sein.

Weil ich ein Planer bin, rufe ich auch bei der Campinghüttenvermietung an. Nach "Dzień dobry!" stockt das Gespräch auf beiden Seiten, die Dame am anderen Ende spricht keine Fremdsprachen und ich kein Polnisch. Sie hat wahrnehmbar wenig Spaß an der Vorführung, aber wir kommen wenigstens noch so weit, daß ich die Aussage "Domki tak!" aus ihr herauskitzele, was ich als "Campinghütte ja!" deute. Super!

Als ich gegen 17:30 in Zamrzenica einlaufe, fühle ich mich wie ein König. 8 Stunden Weg geschafft, davon 2 h im Regen, mir geht's eigentlich prächtig und da vorne wartet eine Übernachtung mit festem Dach auf mich. Vorbei an den 4 Jungs in meinem Alter, die schonmal mit Grill und Drinks den Abend einläuten. An der Rezeption: Niemand. Also zur Sicherheit erneut an der Tür gerüttelt und dann doch nochmal angerufen, irgendwas mit Recepja und Domki gestammelt, aber die Campingdame scheint das Ganze immer weniger zu amüsieren. Und so endet das Gespräch ergebnislos und unbefriedigend. Klang am Ende irgendwie nicht so, als würde sie sich jetzt auf den Weg machen, um mir eine Campinghütte zu vermieten.

Also die vier Jungs angequatscht. Sie sprechen sowohl Englisch als auch Deutsch und telefonieren für mich mit der Campingdame, quasi als Übersetzer. Keine guten Nachrichten: Mindestaufenthalt 2 Nächte. Auf einen kleinen Aufpreis will sie sich nicht einlassen. 2 Nächte sollen bezahlt werden, auch wenn ich nur 1 Nacht bleiben will. Das wären rund 300 PLN, also knapp 70 EUR für einen plötzlich gar nicht mehr so attraktiven Holzverschlag. Das wäre außerdem teurer als das Schloßhotel vor zwei Wochen, das ich mir inzwischen aus schlechtem Gewissen heraus als preisliche Obergrenze gesetzt habe. Und außerdem aus Prinzip: 300 PLN? Kommt gar nicht in die Tüte... Da suche mich dann doch lieber einen Platz zum Zelten.

Während ich noch ein wenig unschlüssig herumstehe, quatsche ich ein bißchen mit den vier Typen, sie fragen mich über mein Woher und Wohin aus. Dann drücken sie mir einen Bacardi-Cola in die Hand, damit ich nicht so auf dem Trockenen liege. Einen von der stärkeren Sorte. Ablehnen wäre Frevel, auch wenn mir gerade nicht (und eigentlich auch sonst nie) der Sinn nach Bacardi Cola steht. Es dauert 10 Minuten Smalltalk und sie bieten mir an, bei ihnen in der Campinghütte zu übernachten, im Erdgeschoß wäre noch auf dem Sofa Platz. Ich bin schwer gerührt, habe aber irgendwie das Gefühl, daß das too much wäre. Eigentlich will ich eher meine Ruhe und ich will den Jungs nicht ihren Abend verderben, indem ich sie entweder dazu zwinge, die Gespräche auf Deutsch/Englisch zu führen oder mich wahlweise still mit meinem Buch in der Ecke zu sitzen.

Also Rucksack auf und weiter. Auf der Karte hatte ich noch einen Biwakplatz für die Flußpaddler gesehen. Der ist dann am Ende doch etwas weiter weg als gedacht und etwas weniger schön als erhofft. Eigentlich zelte ich mehr oder weniger im hintersten Eck eines Waldparkplatzes. Unten am Fluß hätte es zwar noch ein paar nette Stellen gegeben, aber das scheint dem frisch umgepflügten Waldboden nach zu urteilen das Wohnzimmer der Wildschweine zu sein. Also verzichte ich lieber. Während ich das Unterholz am Ufer absuche (natürlich mit Rucksack auf dem Rücken, den läßt man nicht einfach irgendwo stehen), öffnet sich pikanterweise auf der anderen Seite des Flusses eine herrliche ausgedehnte Wiese in der Abendsonne, die sich perfekt zum Zelten eignen würde. Ein Traum sozusagen. Aber habe ich ein Boot? Nein. So bleibt für mich am Ende nur der Waldparkplatz. Die letzten 2 Stunden bis zum Sonnenuntergang hadere ich mit mir, ob ich meine Übernachtungssituation jetzt scheiße finden soll. Irgendwie ja - es nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Viel zu nah an der Straße und den nächsten Häusern. Aber ich bin lange genug unterwegs gewesen und irgendwie ist es auch ok. Morgen früh baue ich mein Zelt ab, ziehe weiter nach Norden und alles wird gut.

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