Rukławki nach Sorkwity (Jedrychowo)
6 h / 26 km
Zum Frühstück scheint die Sonne auf den Teller, draußen leuchten See und Himmel in allen Blautönen um die Wette. Insgesamt also ein durchaus einladendes Bild... Uns erwartet dagegen erstmal eine Straßenetappe. Die ersten Kilometer des Tages hat die EU wieder ein Stück Radweg kofinanziert, also laufen wir - sicher abgetrennt von der Straße durch die allgegenwärtigen gelben Metallgitter - stur neben der Straße.
In Biskupiec gibt es ein pompöses Betonmonument auf dem Marktplatz, für jeden von uns ein Eis und für das Fernweh auch gleich noch das erste Straßenschild, das die russische Grenze ankündigt. Aber das ist nicht ganz unsere Richtung, also ziehen wir weiter auf der 590 Richtung Osten und weichen dabei zahllose Male nach links in Richtung Straßengraben aus, wenn mal wieder ein Auto kommt. Ätzend, aber es gab ums Verrecken keinen besseren Weg raus aus diesem Ort.
Irgendwann ist aber auch das geschafft und der schöne Teil des Tages kann beginnen. Ab in den Wald, ab auf die Forststraße. Sofort bietet sich ein Holzstapel für die erste ordentliche Rast des Tages an und wird auch entsprechend genutzt. Im nächsten Dorf träumen wir uns an einem herrlichen Gutshaus vorbei, gelegen auf einem knallgrünen Hügel mit Aussicht auf den See. Im Garten werkelt die Gärtnerin neben ihrem freundlichen Hund, wir setzen uns statt dessen ans Wasser und machen schon wieder Pause, weil's halt so schön ist.
Jetzt kommt der Abenteuerteil. Auf der Wanderkarte sieht eigentlich alles ganz einfach aus: Da vorne nach links von der Straße abbiegen (passenderweise fährt da auch gerade ein Auto lang, wie um uns dazu zu ermuntern) und den kleinen Wegen durch den Wald folgen, bis wie am See in Sorkwity wieder rauskommen. Dann haben wir nämlich auch gleich vermieden, auf der Horror-Landesstraße-16 zu laufen, die sich seit Tagen schon durch massiven Verkehr in mein Hirn gefressen hat.
Das erste Mal Abbiegen geht noch gut, aber der Weg wird immer mehr von Grün überwuchert und zurückerobert. Und bald besteht er endgültig nur noch aus einer gerade so erkennbaren Fahrspur, zwischen Brennesseln, Kraut und kleinen Baumsprößlingen. Hier ist schon länger niemand mehr unterwegs gewesen... Weil ich kurze Hosen anhabe, habe ich keine Lust auf Brennesseln und weise - vielleicht etwas voreilig - einen Schwenk nach links an, weil da wenigstens noch der Hauch eines Weges erkennbar ist. Im Nachhinein eine Scheiß-Idee, denn jetzt eiern wir quer über frisch bepflanzte Felder, durchs Unterholz, scheuchen eine Wildschweinfamilie auf, kämpfen uns entlang irgendwelcher Schneisen durch den Wald und schwimmen dabei im hüfthohen Gras.
Wenigstens zeigt uns die Bahnlinie, daß wir nicht ganz falsch unterwegs sind, aber es dauert mehr als eine Stunde querfeldein, bis wir endlich wieder auf einem richtigen Weg stoßen. Richtig genießen können wir das leider nicht, denn die letzte Stunde war zwar schön wild und optisch gefällig, aber auch tierisch anstrengend. Außerdem haben wir inzwischen alle Mücken aus der näheren Umgebung eingesammelt und ziehen sie im Pulk hinter uns her. Aber wenigstens läuft es sich jetzt etwas einfacher.
Wieder im Wald fällt mir die Orientierung allerdings schwer. Die Wege laufen in der Realität kreuz und quer und eigentlich folgen wir mehr einem Bauchgefühl und einer groben Richtung als einem echten Plan. Normalerweise wäre in so einer Situation Anhalten, Pause machen und Entspannen das Richtige. Aber die Mückeninvasion ist mittlerweise gigantisch und wir wagen kaum, unseren Schritt zu verlangsamen. Ständig summt dir irgendwas ins Ohr, krabbelt irgendwas auf deinem Kopf herum, landet irgendwas auf deinem Arm. Als wir irgendwann dann doch an der Landesstraße 16 statt wie geplant auf dem Feldweg am See stehen, ist das auch schon fast egal. Wir entleeren meinen Rucksack, um das Mückenspray zu finden und Nina duscht sich schnell mit Autan, weil die Biester sie inzwischen schon durch die Hose stechen.
Auf "Zurück in den Wald" hat keiner von uns so richtig Bock, also kämpfen wir uns entlang der 16 durch den tobenden Verkehr, der vom 40-Tonner bis zum bretthart überholenden PKW alles zu bieten hat. Als kleiner Trost hält Sorkwity einen vom örtlichen Trinkerverein gut besuchten Sklep bereit. Wir verlassen den Laden mit kalten Getränken, gurgeln erstmal jeder eine halbe Flasche runter und sofort sieht die Welt wieder ein bißchen besser aus. (Nur die Welt, nicht Sorkwity. Der Karte nach zu urteilen, hatte ich einen netten kleinen Ort erwartet, idyllisch zwischen zwei Seen gelegen. Statt dessen acht Häuser, eine Bushaltestelle, vier Parkplätze, ein geschlossenes Restaurant und der unbarmherzige Verkehr auf der 16.)
Aber wir können gleich abbiegen auf die Zielgerade, auf dieser kleinen Straße treffen wir in der letzten Stunde nur 2 Autos und 1 Radfahrer. Die Nachmittagssonne scheint sanft auf das hügelige Land und alles wirkt so still und idyllisch wie ein Sommerabend in Schweden. Uns beiden steckt der Tag gehörig in den Knochen. Nina fordert leicht murrend die baldige Ankunft an unserem Hotel; mir geht's ganz genauso, ich bin aber zu stolz, um es mir anmerken zu lassen.
Die herrschaftliche Toreinfahrt zum Gutshof markiert das Ende unserer heutigen Etappe. Das "Hotel im Park" hat sich schon vom Namen her ganz den deutschen Gästen verschrieben und ist eine schöne Anlage mit Restaurant in der alten Scheune, netten ehrlichen Zimmern im Gutshaus, einem See nebenan und viel Garten zum Sitzen. Nach dem Duschen sitze ich im Park, trinke ein kaltes Radler, schreibe Postkarten und höre kichernd den mosernden deutschen Rentnerinnen nebenan zu, die sich über die Kellnerin aufregen.
Als sich Nina zu mir in den Garten gesellt, haben wir unabhängig voneinander dieselbe Idee gehabt: Unser Hotel hat ein kleines angeschlossenes Massagestudio, dessen einzige Massagedame arbeitslos an der Rezeption herumschiebt. Da müssen wir nicht lange überlegen, Nina gönnt sich eine Ganzkörpermassage und schwebt nach einer guten halben Stunde wieder glücklich über das Kopfsteinpflaster. Danach bin ich an der Reihe und gönne mir eine herrliche Massage für Füße und Waden, was die sich inzwischen mehr als verdient haben.
Das anschließende Abendessen wird überschattet von den mosernden deutschen Damen aus dem Garten, die sich jetzt am Nebentisch über Schlüpfer unterhalten und damit jede Unterhaltung zwischen Nina und mir ersticken. Weil wir lauschen müssen...
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