Weg: siehe Bildmitte |
Tleń nach Osiek
7 h / 27 km
Wieder ein Tag, an dem ich nicht weiß, wo ich landen werde. Das Forsthaus Czarne hat meine Anfrage per Email ignoriert, andere Alternativen waren in erreichbarer Laufdistanz im Netz nicht zu finden, ohne vollkommen von der groben Richtung abzuweichen. Und schließlich habe ich ja auch noch ein Zelt mit. Doof nur, daß ich heute überhaupt keinen Bock auf Zelten habe. Es soll am Nachmittag regnen, außerdem finde ich auf der Karte nur wenige Seen, deren Ufer nicht mit Häusern bebaut sind. Vielleicht finde ich ja doch noch irgendwas auf dem Weg, zur Not muß halt doch das Zelt herhalten.
Direkt gegenüber vom Hotel tauche ich neben dem Fluß ins Unterholz ab. Auch die Wda schlängelt sich durch ein unbewohntes Tal mit sumpfigen Ufern, oberhalb erstrecken sich auf sandigen Höhen endlose Kiefernwälder. Der Weg existiert, irgendwie, wirkt aber wie eine seit 30 Jahren nicht mehr begange Abenteuertour: Tonnenweise Bäume sind auf den Weg gestürzt und zwingen mich zu einer Kletter- oder Krabbelpartie nach der anderen. Was mit dem Monster-Rucksack weniger lustig als sonst ist. Plötzlich gibt es massenhaft Mücken, die sich immer im richtigen Moment auf mich stürzen, ich laufe durch 326 Spinnennetze und schleppe daher ca. 27 Spinnen mit mir herum. Schon nach einer halben Stunde bin ich vollkommen durchgeschwitzt und bei der erstbesten Gelegenheit nehme ich den erstbesten Weg, der nach links den Steilhang hinaufführt. Ist schön hier, aber heute nicht für mich.
Oben im Wald sitze ich erstmal eine halbe Stunde auf dem Stamm einer dicken Birke am Wegesrand, gucke mir die Wolken in der Ferne an und trockne im Wind. Die Forstbehörde hat hier mächtig abgeholzt, es wirkt teilweise ein bißchen wie eine Mondlandschaft. Staubtrocken ziehen sich die Sandwege über Kilometer hin und die Mittagssonne brennt gnadenlos von oben. Und dabei ist es gerade erst Anfang Mai...
Doch genauso unverhofft ist der Spuk auch wieder vorbei, das liebliche Flußtal schiebt sich wieder in den Vordergrund. Sattes Grün, ein paar verstreute Häuser, Angler und Wochenendgrundstücke. Als ich auf der Straße über die einzige Brücke weit und breit gehe, überholt mich ein Wohnmobil, hinten auf dem Fahrradständer ein Fahrrad -- und ein Rasenmäher. So sind hier also die Prioritäten verteilt...
Der Himmel zieht sich im Laufe des Tages langsam zu, es riecht förmlich nach Nachmittagsgewitter und ich halte für meine Mittagspause an einer überdachten Picknickbank im Wald, die mich im Fall der Fälle trocken halten würde. Ein Abschleppwagen fährt vorbei, original mit "Im Auftrag des ADAC". Sitzen, lesen, Socken in der Sonne wenden. Der Abschlepper rumpelt wieder vorbei, in die Gegenrichtung, mit einem Auto hintendrauf und einem Pferdeanhänger hintendran. Ab und zu trete ich barfuß auf den Waldweg raus, um den Himmel zu beobachten. Sieht fies aus, daher dehne ich meine Mittagspause so weit aus, bis mir sterbenslangweilig ist und ich lieber in Kauf nehme, in den Regen zu kommen, als weiter hier rumzusitzen.
In Łuby treffe ich auf den ersten freundlichen Dorfhund dieser Reise. Statt sinnlos zu kläffen, läßt er sich nach einem kurzen Schnuppern kurz über den Kopf streicheln, bevor er wieder hinter irgendeinem Hoftor verschwindet.
Die letzten Kilometer bis Osiek will ich Strecke machen, um noch einen Zeitpuffer zu behalten, falls ich keine Übernachtungsmöglichkeit finde und doch noch weiter in den Wald muß. Die sandigen Wege machen das Vorankommen beschwerlich, ich verliere zum ersten Mal seit Tagen leicht die Lust. Das Einzige, was in einem solchen Fall hilft: Kurz Pause machen, Wasserflasche leer trinken, Kopf ausschalten, Rucksack auf -- und weiter.
In Osiek beginnt dann das Scannen nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Meine größte Hoffnung hatte ich auf den Gasthof an der Landstraße gesetzt. Aber ach, der scheint schon seit Längerem tot zu sein. Verrammelt und verriegelt, der Garten überwuchert. Also drehe ich wieder um und laufe denselben Weg wieder zurück in den Ort, diesmal aber auf der anderen Straßenseite, um den lustigen Grill-Rentnern von eben eine Chance zu geben, ein Gespräch mit mir anzufangen. Dann hätte ich elegant darauf hinweisen können, daß ich heute nix zu Essen bekommen werde, weil der Gasthof aufgegeben hat. Dann hätten sie mir elegant eine Wurst über den Zaun reichen können. Aber wahrscheinlich bin ich der Einzige, der sich solche Sachen ausdenkt und zurechtlegt, ich zuckele also ohne Wurstgewinn an den Rentnern vorbei und klappere statt dessen die restlichen Straßen des Dorfes nach möglichen Schildern oder Hinweisen auf eine Zimmervermietung ab.
Die schöne Agroturystyka mit dem schönen Schild wird antelefoniert, die Dame des Hauses spricht etwas Englisch, hat auch ein Zimmer frei, ist aber erst um 20:00 Uhr wieder zuhause. Will ich jetzt 3 Stunden auf der Straße rumsitzen, mit den Gewitterwolken im Rücken? Gleich nebenan ist die nicht ganz so schöne Agroturystyka mit dem weniger schönen Schild, die Kollegin kann eher ein paar Brocken Deutsch und ich verstehe, daß sie wissen möchte, wann ich denn ankomme. Ich versuche zu erklären, daß ich schon vor der Haustür stehe, aber der Groschen fällt erst, als die Wirtin ums Haus kommt und ein erstauntes "Oh" ausruft, beide haben wir das Handy am Ohr und alles wird gut.
Ich werde reingebeten, bekomme etwas zu Trinken angeboten, das Zimmer wird noch schnell hübsch gemacht und nach einer Dusche und einem kleinen Einkaufs-Run zum Sklep sitze ich auf der Dachterrasse mit Aussicht auf den Garten und den See und esse ein Männerabendessen (Kielbasa und Warka). Und bin rundum zufrieden. Ok, das Zimmer ist etwas schrammelig, das gemeinsame Bad ist nicht wirklich sauber, eigentlich übernachtet man in einem zusätzlichen Zimmer mitten im Haus der Gastgeber. Aber die Leute sind freundlich und das ist viel wichtiger. Zumal dir das sowieso alles egal ist, wenn du auf der Straße stehst und bangst, ob du heute Abend ein Dach über dem Kopf finden wirst oder ob du irgendwo im Wald schlafen und auf das Gewitter warten mußt.
Später finde ich heraus, daß mich das Zimmer 25 PLN für die Nacht kostet (das sind - festhalten! - 5,60 EUR) und sofort fühle ich mich irgendwie schuldig. Die Gastgeberin bringt noch einen kleinen Teller mit Selbstgeräuchertem und ich trinke mein zweites Warka, schaue auf den See und freue mich, daß ich in Polen bin. Als es dunkel wird, setzten sich meine Gastgeber und zwei Freundinnen noch zu mir auf die Terrasse, es gibt nochmal Bier und Häppchen mit Fleisch und Ei für alle. Es herrscht großes Sprachgewirr zwischen Polnisch, Deutsch und Englisch, wir lachen über Onkel Google und Tante Wikipedia, die Mücken fressen uns auf und irgendwann gehe ich ins Bett in einem schrammeligen Zimmer und fühle mich ein Stück zuhause.
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